Das Ritual

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      Die kleine Geschichte schlummerte über ein Jahr auf meiner Festplatte, bis ich sie jetzt durch einen Zufall ausgrub. Vielleicht ist es an der Zeit, sie in die Welt hinauszulassen. Es geht ums Altwerden und um eine große Liebe. Ich schrieb sie aus der Erinnerung an die Begegnung mit meiner Jugendliebe, die ich 25 Jahre nicht gesehen hatte. Wir kamen uns nicht nah genug, um miteinander reden zu können (vielleicht wollte sie das auch gar nicht), aber allein ihre Anwesenheit löste ein Beben in mir aus. Ich spürte die Kraft wahrer Liebe, die es für mich war, und vielleicht immer bleiben wird...



      Das Ritual


      Als wir uns gegenüber saßen, streckte ich ihr die Arme entgegen und ließ meine Hände in der Tischmitte liegen. Agnes nahm den Schal von ihrem Hals, wickelte ihn wie immer gekonnt um meine Handgelenke, zog ihn straff und verknotete die Schalenden oben zwischen meinen Händen. Agnes trug jede Woche einen anderen Schal - sie musste hunderte davon haben. Aber so unterschiedlich sie in Farbe und Ausführung auch sein mochten, sie trug sie immer gleich. Einmal um den Hals gewickelt und die Enden baumelten einfach vorne herunter. Diesmal war es ein Schal mit einem Leopardenmuster. Beim letzten mal war es ein roter. Ich erinnerte mich noch so genau daran, weil er so leuchtend rot war, aus einem schwereren Stoff, und er mir so gut gefiel.

      Wenn ich die Arme anwinkelte, lag der Knoten genau vor meinem Gesicht und ich hätte ihn mit den Zähnen öffnen können. Einmal hatte ich es versucht. Aber Agnes hatte die überhängenden Schalenden genommen, sie noch mal herumgewickelt und unter meinen Händen erneut verknotet, sodass ich den Knoten nicht mehr erreichen konnte. Und dann lächelte sie, als ich die Hände wieder auf den Tisch sinken ließ.

      Als Agnes mir zum ersten mal die Hände gefesselt hat, war ich dreizehn. Da sie drei Jahre älter ist als ich, war sie beinahe eine Frau. Und so fühlte es sich auch an. Warum sie es tat wusste ich nicht, aber ich weiß, dass es mir 50 Jahre lang gefehlt hat. Damals, in der alten Gartenlaube ihrer Eltern, dachte ich, mir würde das Herz aus der Brust springen. Agnes war mir so nah, wie nie ein Mädchen zuvor. Sie war ganz vorsichtig und berührte mich und lächelte mich an. Allein ihr Lächeln war zum verlieben.

      "Wie geht's dir?" fragte Agnes
      "Ich kann nicht klagen."
      "Warst Du bei Nathalie?"
      "Ja, ich komme gerade vom Friedhof, wie jeden Freitag, wenn ich auf dem Weg zu dir bin."
      "Ich war immer eifersüchtig auf Nathalie, trotzdem wünschte ich, sie wäre noch da. Bis ihr zusammen kamt, war ich mit ihr befreundet, aber danach ging das nicht mehr. Ich habe euch beide gleichzeitig verloren."

      Agnes rührte in ihrem Kaffee. Jeden Freitag, wenn ich bei ihr war, trank sie eine Tasse Kaffee und aß dazu ein Stück Apfelkuchen mit Sahne. Die ganze Begegnung war wie ein Ritual und spielte sich immer gleich ab. Sie hat nie gefragt, ob ich auch eine Tasse Kaffee oder ein Stück Kuchen möchte. Und ich habe nie was gesagt. Es war, als wäre es für sie das Selbstverständlichste auf der Welt, einem Mann gegenüberzusitzen, dessen Hände gefesselt sind, und der einem beim Kaffee trinken und Kuchen essen zusieht. Aber ich sah ihr gerne zu. Manchmal glaubte ich sogar, ich lebte nur noch für diesen einen kurzen Moment, einmal in der Woche.

      "Ich weiß nicht, vielleicht könnten wir heute wieder Freundinnen sein" sagte Agnes.
      "Auch wenn es wünschenswert wäre, glaube ich es nicht. Nathalie ging es wie dir, weil sie wusste, wie viel wir uns bedeutet haben. Sie hatte immer Angst vor dir und mir manchmal die Hölle heiß gemacht, weil sie behauptete, dass wir uns getroffen hätten."

      Agnes zog die Kuchengabel aus dem Mund. Sie sieht noch immer bezaubernd aus und wird für mich immer sein was sie immer war. Ihr Lächeln ist noch immer so, wie ich es aus der alten Laube kannte. Auch in den vielen Jahren, in denen ich sie nicht sah, hatte ich es nicht vergessen. Es war schwer, ohne sie zu leben, aber es musste gehen. Der Weg den ich ging war ein anderer, weil wir es nicht hingekriegt hatten. Agnes zeigte mir, dass sie auch für andere Jungs interessant war (wie hätte ich daran zweifeln können?) und als ich ihr eins auswischen wollte, bekam ich neun Monate später die Quitung. Es tat noch Jahre später weh, aber es war ein Schmerz, von dem ich niemandem erzählen konnte.

      "Dabei haben wir uns fast vierzig Jahre nicht gesehen" fuhr Agnes fort. "Aber vielleicht sind wir uns in unseren Träumen begegnet." Das war gut möglich. Auch wenn es mit der Zeit seltener wurde, hat es nie aufgehört, dass Agnes in meinen Träumen auftauchte. Sie war darin so jung, wie ich sie in Erinnerung hatte, und es spielte sich immer an dem Ort ab, an dem wir uns zusammen am meisten aufgehalten hatten, in der alten Gartenkolonie, in der ihre und auch meine Eltern einen Garten hatten. Nur waren ihre Eltern innerhalb der Woche seltener da, sodass wir uns besser in deren Garten zurückziehen konnten, wenn wir ungestört sein wollten, was immer öfter passierte. Und sobald die Tür zur Außenwelt hinter uns geschlossen war, wurde ich zu ihrem Gefangenen.

      "Warum hast Du nie geheiratet?" Agnes kaute die letzten Bissen des Apfelkuchens und trank noch einen Schluck Kaffee, bevor sie antwortete.
      "Verehrer kamen und gingen und ich war ein paar mal kurz davor, zu heiraten, habe am Ende aber immer kalte Füße gekriegt. Außerdem war keiner wie Du." Obwohl sie mir das in jeder Woche sagte, hatte ich trotzdem jedes mal Tränen in den Augen. Seit knapp sechs Jahren gehe ich jeden Freitag zu ihr. Wir trafen uns zufällig, als Nathalie ein Jahr zuvor gestorben war. Wir waren beide sprachlos, als wir uns sahen. Ich hatte oft überlegt, ob ich sie wiedererkennen würde, so alt und grau, wie wir über die Jahre geworden sind. Ich erkannte sie allein schon an der Stimme, als sie mit der Verkäuferin in der kleinen Bäckerei sprach. Und dann drehte sie sich herum, mit den frischen Backwaren in der Hand. Wir sahen uns in die Augen und wussten sofort wer wir sind, aber wir kriegten kein Wort heraus.

      Ich hatte vergessen was ich kaufen wollte und wir gingen zusammen auf die Straße. Um die Ecke gab es ein Café, in das wir uns setzten. Da saßen wir uns zum ersten mal gegenüber, so wie wir uns jetzt an jedem Freitag gegenüber sitzen. Auch bei dieser Begegnung trug sie einen Schal um ihren Hals, aber sie benutzte ihn in der Öffentlichkeit natürlich nicht, um meine Hände damit zu fesseln. Das Ritual war ja auch noch nicht geboren. Ich streckte meine Arme zu ihr aus, so wie ich das heute auch immer tue. Unsere Hände trafen sich in der Tischmitte und wir hielten uns wortlos aneinander fest. Sie war zurückgekehrt, nachdem sie viele Jahre in einer anderen Stadt gelebt hatte. Und als sie wusste, dass Nathalie verstorben war, lud sie mich zu sich ein.

      "Ja, vielleicht hätte ich heiraten und Kinder kriegen sollen. Kinder können einem das alt sein erleichtern."
      "Dafür gibt es keine Garantie" antwortete ich. "Sie machen auch Kummer und es ist nicht sicher, dass sie einen wirklich besuchen."
      "Dein Sohn besucht dich jedenfalls."
      "Manchmal. Aber ich weiß nicht was mehr weh tut, wenn er lange nicht da war, oder wenn ich ihn nach kurzer Zeit wieder gehen sehe. Schmerzhaft ist es irgendwie immer."
      "Bis zu einem gewissen Punkt kann man das älter werden ertragen, aber dann wird es grausam. Wir warten doch nur noch auf den Tod."

      Ich sah Agnes lange an. Diese negativen Gedanken passten gar nicht zu ihrem Lächeln. Dieses Lächeln hatte sie sich immer bewahrt. Ich hätte es immer wieder erkannt, egal wie lange wir uns nicht gesehen hätten. Um es zu vergessen, hatte ich zu oft davon geträumt. Sie lächelt nicht nur mit dem Mund, sondern auch mit den Augen. Ich würde es als jugendlichen Schalk bezeichnen, den man einer über Siebzigjährigen nicht zutrauen würde. Sie lächelt von innen heraus, vielleicht sogar direkt aus der Seele.

      "Ach Agnes, Du bist doch nicht alt und der Tod stirbt noch vor dir."
      Agnes war bereits dabei, den Knoten an meinen Handgelenken zu lösen. Ich fürchtete mich immer vor diesem Moment, weil ich so gern noch bei ihr geblieben wäre. Aber sie allein entschied, wann es Zeit wurde zu gehen. Als sie mir den Schal von den Handgelenken gewickelt hatte, legte sie ihn wieder um ihren Hals und stand auf.
      "Kommst Du nächste Woche wieder?"
      "Ja, natürlich."
      "15 Uhr?"
      "Wie immer."
      "Ich freue mich."

      Agnes begleitete mich zu Tür. Wie immer blieben wir noch kurz stehen. Sie legte mir ihren Handrücken auf die Wange und streichelte mich.
      "Bleib anständig" sagte sie. Und dann nahm ich sie in den Arm und wunderte mich wie immer, dass sie noch genau so gut roch wie damals, in der Laube ihrer Eltern, als sie auf mir saß und mich unter sich begrub, ohne dass ich irgendwas hätte tun können.
      Vielleicht hätte ich sie fragen sollen, bevor es zu spät ist. Jedes mal, wenn ich aus ihrer Wohnung kam und die Treppe hinunter ging, dachte ich das. Doch ich hatte Angst vor ihrer Antwort.

      Lemming

      Again schrieb:

      Man kann quasi gelesen mitfühlen falls das für dich einen Sinn ergibt.

      Oh ja, das ergibt für mich sehr wohl einen Sinn und freut mich sehr :) Nur habe ich den Satz erst jetzt verstanden, weil meine Augen mir beim ersten, zweiten und dritten lesen des Wortes “falls“ einen Streich gespielt haben :rot: Ich glaube, dass viele sich an eine alte/erste Liebe erinnern können und sie im Herzen tragen. Vielleicht fällt denen das Mitfühlen besonders leicht.

      Vielen Dank für all die netten Reaktion, die ich hier und dort erhielt :love: