Zug um Zug

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      @Cosima, Du warst unbeabsichtigt Muse ... :pardon:

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      Hannover. Noch knappe drei Stunden … wenn alles klappt. Das weiß man ja nicht unbedingt, schließlich fahre ich mit der Deutschen Bahn. Da gehört es schon fast selbstverständlich zum Service, dass man zum Ticket noch eine zeitliche Mehrleistung gratis dazu bekommt. Ehrlich, das mit der Servicewüste in Deutschland gehört längst der Vergangenheit an.
      Ich ergebe mich in mein Schicksal und blende den unbequem geparkten Koffer, der mir den Knieraum raubt, genauso aus, wie die Kinder schräg gegenüber, die sich lautstark mit ihren lärmenden “Lerncomputern” beschäftigen, die sie wohl gerade zu Weihnachten bekommen haben. Wenn man öfter fährt, lernt man das. Wir alle nerven irgendwen. Abschalten. Ausblenden. Ommmmmm.

      Zumindest das W-LAN funktioniert. Dann kann ich ja gut etwas lesen. Kindle … kickt mich gerade nicht. Der Adventskalender mit den Geschichten … die hatte ich doch noch nicht alle gelesen, oder?
      Ich schaue mich voll unauffällig um, bevor ich die Forenseite aufrufe, aber mein Nachbar ist ja ein unbequemer Koffer und durch die Sitzritzen wird auch niemand von hinten mitlesen. Man möchte ja niemanden vor den Kopf stoßen.

      Mit dem Tablet ist es ja zum Glück nicht so auffällig. Wenn man es aufrecht hält, nicht quer, dann ist noch nicht einmal der Schriftzug “gentledom” zu lesen. Aber vermutlich interessiert das Peitschenlogo bei einem beiläufigen Blick eh niemanden. Ich ärgere mich über mich selbst ein wenig, weil die Geschichten doch FKS 16 sind und es schließlich in jedem Durchschnitts-Thriller mit mehr Gewalt, Psychospielchen, Mord und Totschlag zur Sache geht. Also warum bin ich so vorsichtig? Trotzdem, es ist mir lieber so. Muss ja nicht jeder wissen, wo und was ich lese ...

      Ich ziehe die Beine auf den Sitz hoch und beginne.

      Enttäuscht stelle ich fest, dass ich nur die wirklich schöne, aber leider letzte Geschichte des Kalenders noch nicht gelesen hatte. Ich lächle, weil ich @Gentledom die gar nicht zugetraut hätte. Der Cliffhanger macht aber Lust auf mehr. Also hinterlasse ich artig einen Kommentar mit Dank an den Autor und die perfekte Orga (das macht ja wirklich Arbeit und man muss verlässlich sein), verteile zusätzlich noch ein paar Likes, bevor ich in die BDSM-Bibliothek wechsle, die @nightbird so gewissenhaft pflegt.

      Mein Blick bleibt hängen an einer neuen Geschichte mit dem Titel “Zug um Zug” … ob das was mit dem Spiel zu tun hat? Das, wo man Strecken durch die USA bauen muss und ich immer Duluth und Dallas verwechsle? Der Titel passt jedenfalls zu meiner Reise.

      Naja, mal klicken ....

      “Wie sie da sitzt ist vielleicht bequem, aber nicht anmutig.” dachte ich.
      Sie hatte tolle braune Haare und ein hübsches Gesicht. Man konnte vermuten, dass sie auch sonst sehr ansehnlich war. Den Trend, in Jogginghosen zu reisen, hatte ich aber nie verstanden, gerade bei jungen Frauen nicht. Jede blickdichte Strumpfhose mit einem A-Linie-Rock wäre doch genau so bequem und sehr viel vorteilhafter. Und diese hochgezogenen Beine!

      Das war der Moment, wo ich mich dann doch noch einmal irritiert umschaute, ob mich jemand streng musterte. Zwar trug ich keine Jogginghosen, aber Sweatpants … wurden die früher nicht so genannt?
      Ich sah jedenfalls niemanden und kehrte beruhigt zurück zur Geschichte.

      Wenigstens hatte sie den Anstand, ihre Schuhe ausgezogen zu haben.
      Manchmal erlaubte ich mir die Vorstellung, so eine junge Frau zu korrigieren, ihr zu zeigen, wie sie das Beste aus sich herausholt. Ich mochte schon ein älteres Semester sein, aber als Einkaufsleiter eines größeren und erfolgreichen Modehauses in Osnabrück hätte ich jede Qualifikation dazu gehabt. Wir verkauften zu meinem Leidwesen sogar diese schauderlichen Sweatpants.

      Wenn ich nur sehen könnte, ob sie eine Konfektionsgröße 36 hat! Der unhandliche Koffer neben mir war ja nicht leer. Ich hatte eine Musterkollektion aus Berlin dabei für unsere Frühjahrsmodenschau … aber sie einfach zu fragen, das schickte sich so garnicht.
      “Was für eine Verschwendung!” haderte ich mit den Konventionen. Mein Spiegelbild im Fenster des ICE brachte mich zum Lächeln. Zwar fehlte die Sonnenbrille, aber ich sah wirklich ein wenig wie Friedrich Liechtenstein aus, der coole ‘Mr. Supergeil’ aus der Werbung. Heute trug ich einen schlichten - aber feinen - schwarzen Anzug mit weißem Manschettenhemd und Einstecktuch… und den etwas affektierten Gentlemanstock, eine Marotte von mir.

      “Du willst diesem jungen Ding gefallen, Du alter Sack!” entlarvte mich meine innere Stimme. So ein junges Ding würde mir schon schmeicheln - aber nein, was sollte das denn!
      Aber ich könnte ja mal aufstehen und unauffällig an ihr vorbeilaufen, einen Blick riskieren? Das wäre doch total unverfänglich.
      “Das wäre total dämlich, wenn du sie ansprichst oder total feige, wenn du es nicht tust.” ätzte meine dunkle Seite dagegen.
      Fürs Aufstehen und an ihr vorbeigehen reichte der Mut. Ich stand also auf. Langsam näherte ich mich ihr … sie war wirklich schön!
      “Und du bist alt!” … ja, das wusste ich bereits. Aber noch nicht tot!

      Vorbei.
      Ich war an ihr vorbeigegangen.
      Und jetzt?

      Ich ging weiter, drängte mich an stehenden Passagieren vorbei bis ins Bordbistro und holte mir eine überteuerte Packung Kaugummis.
      “Was für ein Unfug, alter Mann!” schalt ich mich auf dem Rückweg, bereit mich zu bescheiden.
      Aber ich war schon wieder voller Erwartungen. Aus dieser Richtung kommend sah ich natürlich kaum etwas von ihr, orientierte mich schon wieder an meinem Sitzplatz. Da bemerkte ich, dass ihr das Tablet zu entgleiten drohte.

      Guten Abend, die Fahrkarten, bitte! Sie sind noch zugestiegen?”
      Ich schrecke aus der seltsamen Geschichte auf und schaue den Kontrolleur entsetzt an.
      Nein, er sieht nicht halb so gut wie “Mr. Supergeil” aus und hat auch nicht diese Stimme.
      “Und er will nur die Fahrkarten sehen!” erinnere ich mich.
      “Entschuldigen Sie, wenn ich sie aus ihrem Lesestoff gerissen habe, junge Dame … “
      Ich wische schnell vom Forum zur Bahn-App mit der Fahrkarte und dem QR-Code.
      “... ja, danke. Gute Weiterfahrt.”

      Fast bin ich ein wenig enttäuscht, dass mich nicht der resolute Mann aus der Geschichte angesprochen hat. Ich muss zugeben, dass ich den ab und an bitter bräuchte. Mir fehlt es an Stil und Disziplin. Als späte Studentin ist das noch nicht so schlimm, aber ich könnte es nicht, selbst wenn ich es wollte.
      Sicherheit von Menschen mit Erfahrung und Fürsorge? Ja, davon hatte ich wohl auch zu wenig erhalten. Innere und äußere Führung. “Führsorge” sollte das besser heißen. Lustiges Wort. Ich greife zum Tablet, wechsle die App und …

      Entschuldigen Sie! Ihr Tablet fällt gleich zu Boden.”
      “Oh … ja, danke!”
      Unsere Augen trafen sich. Dieses Gesicht, diese Augen! Mein Blick verweilte zu lange.
      “Alles in Ordnung mit Ihnen?” fragte sie etwas alarmiert und um Distanz bemüht.
      “Äh, ja, verzeihen Sie!” was sollte ich jetzt nur sagen, um nicht so dämlich zu wirken?
      “Darf ich Sie fragen, ob Sie vielleicht das Kaufhaus Barten kennen?”
      Sie schaute verdutzt, aber nicht unfreundlich und antwortete: “Das in Osnabrück?”
      “Genau das.” lächelte ich sie an. “Ich bin dort der Modechef und suche noch junge Frauen für die Vorführung der Frühjahrskollektion. Sie sehen gut aus, wenn ich mir dieses Kompliment erlauben darf.”
      Sie starrte mich nur verwirrt an. Vielleicht hätte Schütteln geholfen? dachte ich boshaft.
      Vermutlich dachte sie nur “Die blödeste Anmache ever?” Also flüchtete ich in den Angriff
      Mit einer verliebten Frau kann man alles tun, was sie will.
      (Gustav Klimt)
      “Ich könnte ihre Eignung natürlich wesentlich besser beurteilen, wenn sie die Güte hätten, kurz aufzustehen. So verknotet wie sie hier sitzen …” sagte ich in forderndem, aber freundlichem Ton und trat einen Schritt zurück. Die Hübsche stand auf, noch immer stumm.
      “Drehen, bitte” gab ich Anweisung. Sie hatte die perfekte Figur. Wir suchten ja keine Magermodels, sondern etwas zwischen diesem Extrem und der realen Kundin.
      “Du meinst, Du suchst, was Du magst …” … oh, diese ehrliche innere Stimme!
      “Danke, und jetzt gehen Sie bitte zur Abteiltür und zurück!”
      Sie lief gut, wenn sie auch auf Strümpfen ging.
      Der halbe Wagen folgte ihr bereits mit seinen Blicken und wer in entgegengesetzter Richtung saß, verrenkte sich neugierig den Hals.
      Normalerweise hätte ich ihr jetzt meine Karte gegeben und um einen Anruf gebeten. Aber jetzt gerade überkam mich die dunkle Lust.
      “Das geht so nicht! Schuhgröße?” schnaubte ich.
      “38” kam es mir eingeschüchtert aus ihrem Mund entgegen.
      “Bitte?” schnaubte ich erneut.
      Sie räusperte sich und sagte lauter “Ich habe Schuhgröße 38.”
      Zuckersüß bemerkte ich: “Sie haben Glück, da habe ich für Sie etwas im Koffer.”
      Ich ging die zwei Sitzreihen zu meinem Platz und öffnete den Koffer. Zig neugierige Blicke folgten mir.
      Mit einem herausfordernden Blick in ihre Augen ging ich zurück zu der Hübschen und winkte mit zwei Stiletto-Sandaletten, deren Absätze 10cm hoch waren. Ein Standardschuh für unsere Vorführungen.
      “Können Sie in so etwas elegant dahin schreiten?”
      Sie war unsicher. Wenn Sie “nein” sagte, war es das. Also nahm ich etwas Druck heraus.
      “Nun, wir werden sehen, nicht wahr?”
      “Ich kann es versuchen.” der kecke Widerstand misslang ihr, den sie in diesen Satz hatte hineinlegen wollen.
      Während Sie die Schuhe anzog, prüfte ich den Inhalt meines Koffers auf Kleidung der Größe 36. Ich war mir sicher, was meine Auswahl betraf.
      Doch meine Schöne war gerade mit den Sandaletten aufgestanden.
      Mit einer eleganten Handbewegung schickte ich sie an das Abteilende. Selbst der fahrende Zug brachte sie nicht aus dem Tritt. Sie machte das gut!
      Mit Blick auf die zahlreichen Zuschauer fragte ich “Und, was denken Sie?”
      Viele klatschten freundlich und aufmunternd.
      “Ihnen fehlt noch ein wenig die Eleganz im Gesamtpaket?”
      Ich erntete Zustimmung und die junge Frau wäre nun einerseits gerne im Boden versunken, andererseits wusste sie ja, dass sie gerade gut angekommen war.
      “Sie da, die Dame mit der großen Decke, sie sperren diese Sitzreihe ab und Du, junges Dame, ziehst an, was ich Dir herausgelegt habe!”
      Ihr Kopf arbeitete, das Herz pumpte, der Mund zuckte schmollend … aber sie brach nicht. Stattdessen stapfte sie in die improvisierte Umkleidekabine. Kurz stutzte sie, als sie die Kleidung sah, drehte den Kopf mit offenem Mund zu mir … staunend.
      Ich nickte ihr rückversichernd und auffordernd zu, meine Hände gestikulierten, sie solle sich bewegen.
      Um die entstehende Pause zu überbrücken, setzte ich auf mein Gesangstalent und sang “I’ve got you under my skin.”
      Nun, ich bin kein Sinatra, aber es reichte, bis “Oh”s und “Ah”s mich unterbrachen.
      Der Vorhang war gefallen und aus dem jungen Ding im Schlabberlook war eine anbetungswürdige junge Frau geworden. Sogar die Haare hatte sie passend hochgesteckt.
      Dieses Kleid, ganz aus Spitze mit einem knappen hautfarbenen Unterkleid, konnte man nur mit der perfekten Figur tragen. Es war wie für sie gemacht.
      “Voila, Ladies and Gentlemen, a star is born!” mit diesen Worten schickte ich sie auf ihren ersten Catwlak und alle im Wagen applaudierten.
      Mit hochroten Wangen und einem erfrischenden verschmitzten Lächeln lief sie bravourös mit federndem Schritt einmal die Wagenlänge auf und ab.
      Ich sang dazu “Witchcraft”.
      Am Ende nahmen wir uns lachend in die Arme.
      “Alles gut?” fragte ich sie dann, ihre beiden Hände fest in meinen.
      “Ja. Es ist so verrückt! Was haben sie gemacht?”
      “Ich? Ich habe nur einen Diamanten gefunden!”
      “Darf ich für sie laufen?” fragte sie mit bangem Blick.
      “Es ist mir eine Ehre. Sicher!”
      "… und hoffentlich auch mehr." ging es mir durch den Kopf.
      “Wie heißt Du eigentlich, wenn ich fragen darf?”
      “Lara Fergus … und Sie?”
      “Ich bin Herr Balgenschneider.” Ich gab ihr meine Karte. “Du rufst mich gleich am 27. Dezember an, ja?”
      Sie nickte begeistert. Diese Selbstbestätigung wegen ihrer Wirkung auf andere würde sie nie vergessen. Und sie wollte mehr davon.
      “Das Kleid …”
      “... musst du leider wieder ausziehen.”
      “Schade.”
      “Das finde ich auch. Aber Du hast es ja selbst in der Hand …” in die Pause hoben sich meine Augenbrauen.
      “... mich besser zu kleiden?” seufzte sie.
      Ich zwinkerte ihr zu und sie errötete leicht.
      “Ich …” stotterte sie.
      Erwartungsvoll schaute ich sie an.
      “Ich … habs nicht so mit der richtigen Kleidung.”
      “Nicht schlimm. Ruf’ mich an. Du bekommst einen erstklassigen Personal Shopper bei uns.”
      Das war nicht, was sie hören wollte, stellte ich zufrieden fest.
      “Mich!” flüsterte ich ihr ins Ohr und ich sah ihre Freude.
      “Danke, Herr Balgenschneider!”

      Nun musste sie sich von der Prinzessin im Abendkleid wieder in die Studentin im Schlabberlook verwandeln. Sie erntete zwar auch dafür viel “Hallo!”, aber es war ihr sehr bewusst, wie anders ihre Wirkung vorher gewesen war und wie spöttisch es jetzt klang.

      Ich zwinkerte ihr noch einmal zu.

      Zwischen Bielefeld und Osnabrück hatte ich einer wunderschönen jungen Frau das Herz gestohlen, bildete ich mir ein. Ziemlich sicher hatte sie mein gesteigertes Interesse geweckt.

      “Lara Fergus” murmelte ich ihren Namen und sie lächelte, als wüsste sie das ganz genau.

      Ich würde den Anruf sehnlichst erwarten.

      So sehr ich mir sicher bin, dass so eine Geschichte nie real passieren würde, muss ich doch schmunzeln. Ich sitze aufrecht, habe plötzlich Haltung und Körperspannung. Ob ich vielleicht doch auch dieser Stimme gefolgt wäre, die ich so deutlich gehört hatte beim Lesen?
      Mein Hals ist trocken und ich trinke schnell einen Schluck Wasser. Mir schwirrt der Kopf.
      Ich will wissen, wie es mit den beiden weitergeht und greife wieder zum Tablet.

      Noch gut zwei Stunden bis Frankfurt.
      Mit einer verliebten Frau kann man alles tun, was sie will.
      (Gustav Klimt)
      Lara rief tatsächlich gleich am 27.12. bei mir an.
      “Hallo, Herr Balgenschneider, Lara Fergus hier.”
      “Guten Tag, Lara! Schön, dass Du dich bei mir meldest. Hast Du noch immer Lust zu laufen?”
      “Sicher! Sie haben mich zwar ganz schön überrumpelt, aber vielen Dank für die Erfahrung im Zug. Das war toll!”
      Ich erlaubte mir ein Lächeln. Sie hatte eigentlich keine Wahl gehabt.
      “Die Modenschau ist am … 4. März. Kannst Du da? Wir brauchen dich den ganzen Tag.”
      “Das passt schon. Ich werde es in jedem Fall möglich machen.”
      “Gut, dann sind noch drei Proben angesetzt. 20. und 27.Februar und dann noch eine Generalprobe am 3. März.”
      “Wow, das ist ja doch einiges. Was bekomme ich eigentlich dafür?”
      “Eine geschliffenere Persönlichkeit, Stil, Auftreten.” wollte ich am liebsten sagen, aber das wäre gemein gewesen. Also verstand ich die Frage so, wie sie wohl gemeint war: “Es sind lange Tage zum Mindestlohn, aber es kommen etwa 500 Euro zusammen.”
      “Das ist ja super!” freute sie sich.
      “Lara, es wird harte Arbeit, sei nicht enttäuscht, ja?” Sie sollte nicht sagen können, ich hätte sie nicht gewarnt.
      “Ich? Bestimmt nicht.”
      Wir vereinbarten, dass sie in der zweiten Januarwoche käme, um den Vertrag zu unterschreiben, mit dem ich sie als Model buchte. Vorher fand sich kein Termin, aber es hatte ja auch keine Eile.

      In den folgenden Tagen ertappte ich mich immer wieder dabei, wie ich in unserem Sortiment nach schönen Stücken suchte, die Lara gut stehen würden. Ich hatte im Zug mit den Augen Maß genommen.
      Bei einer Bluse tat es mir in der Seele weh, dass die letzte einen Tag vor Laras Besuch verkauft wurde. Aber wir lebten eben vom Verkaufen … und es gab ja auch noch andere schöne Teile.

      Am vereinbarten Tag stand mir eine frisch frisierte, dezent geschminkte und in ordentliche Kleidung gehüllte junge Frau gegenüber, die sich sichtlich freute, dass meine Augen bei ihrem Anblick lachten.
      “Besser?”
      “Besser. Viel besser.” nickte ich.
      “Sie hätten aber Änderungsvorschläge?” fragte sie schmunzelnd.
      “Ein Dutzend.” neckte ich.
      “... und seien es ein Dutzend Striemen auf diesem süßen Hintern.” dachte ich lüstern. Diese Frau brachte alles in mir in Wallung.
      Sie schaute schon ein wenig enttäuscht.
      “Du siehst wirklich gut aus, Lara. Kein Vergleich zu unserem ersten Treffen. Der Rest ist meine Berufskrankheit … da zählt jedes Detail.” beschwichtigte ich und das Lächeln kehrte zurück.
      “Lass uns in mein Büro gehen. Da bekommst du den Vertrag und kannst unterschreiben.”
      Mit einer Hand an ihrer Taille schob ich Lara in in die richtige Richtung, öffnete ihr die Türen, führte sie durch die erstaunlich langen Korridore zu meinem Büro.
      Lara schaute sich etwas ratlos um und ich wusste, was sie dachte.
      “Es ist nicht gerade … repräsentativ, nicht wahr?”
      “Sie haben ja nur ein Fenster zum Lichthof hinaus!”
      “Hier liegt nur Papierkram. Meine Arbeit führt mich 80% des Tages ins Geschäft oder auf Dienstreisen. Dieses Büro ist nur eine bessere Abstellkammer.”
      “Ach so …”
      Der Vertrag lag unterschriftsreif neben meinem Notebook und ich reichte Lara den Umschlag.
      Sie öffnete ihn, drehte die letzte Seite um und fragte nach einem Stift.
      Mit provokantem Blick reichte ich ihr meinen teuren Kugelschreiber.
      “Was ist?” fragte Lara irritiert.
      “Willst Du den Vertrag nicht lesen?”
      “Muss ich?”
      “Nun, ein Vertrag ist ein Vertrag. Eine ernste Sache. Einen Vertrag muss man erfüllen.”
      “Na, sie werden alle paar Monate Modelverträge abschließen. Vermutlich ein Standardvertrag?”
      “Wenn Du meinst ... “ Ich zuckte die Schultern und lehnte mich in meinen Schreibtischsessel zurück.
      Lara stöhnte leise und unterschrieb.
      “Vielen Dank für das Vertrauen, Lara. Nun gehörst Du mir.”
      Plötzlich war sie hellwach.
      “Das war aber doch nur ein Modelvertrag für die Modenschau!?”
      “Wenn Du meinst …”
      Hektisch blätterte Lara durch die drei Seiten, die nur aus den Arbeitsverpflichtungen und der Freigabe für die Nutzungsrechte der Fotos der Veranstaltung bestanden. Es war der Standardvertrag.
      “Jetzt haben Sie mir aber einen Schrecken eingejagt!” beschwerte sie sich.
      “Lara, Verträge muss man lesen. Alle. Immer. Die sind bindend.”
      “Außer sie sind sittenwidrig, ich weiß” nickte Lara.
      Ich schaute sie einfach weiter an.
      “Ja, ist ja gut, ich werde demnächst besser aufpassen!”
      “Gut!”
      Ich machte eine Pause.


      Ich brauche auch eine kurze Pause. Irgendwie hatte ich bei einer BDSM-Geschichte schon erwartet, dass er ihr einen Sklavenvertrag unterjubelt und dann auf Einhaltung pocht. Aber bei diesem Herrn hätte mich das andererseits auch echt enttäuscht. Der hat sich in Sachen Integrität bei mir ein anderes Standing erarbeitet als dieser … wie heißt denn der Grey von der Anastacia … Dorian? Nein Christian! Baoh, den kann ich ja überhaupt nicht ab! Wenn mir ein Mann mit so einer Masche kommt, der kann gleich wieder gehen. Dominant mag ich ja, aber der ist einfach nur nervig.
      Wenn ich in einer Geschichte abtauche und die so mit meinen Emotionen spielt, bekomme ich immer einen hochroten Kopf. Das ist mir ein wenig peinlich … aber es schaut noch immer niemand. Ich hab’s kontrolliert. Ehrlich! Und jetzt … zurück ins Kaufhaus.
      Mit einer verliebten Frau kann man alles tun, was sie will.
      (Gustav Klimt)
      “Möchtest Du noch etwas wissen?”
      Lara schüttelte ihren hübschen Kopf.
      “Shoppen?”
      “Mit ihnen?” Dieses Funkeln in ihren Augen erweichte mein Herz.
      “Gerne. Komm!”
      Die kommende Stunde war Lara eine VIP-Kundin, die auf Händen durch unser Kaufhaus getragen wurde. Ich wusste ja genau, wo ich hingreifen wollte und sammelte reihenweise Punkte auf ihrem Konto.
      Anschließend hatte sie ein pfiffiges Business-Outfit und einen neuen Freizeitlook in großen Tüten und einige Grundregeln zu Farben und Schnitten im Kopf.
      Sie hatte nicht gefragt, aber ich hatte die Sachen natürlich nicht einfach verschenken können, sondern auf mein privates Konto abgerechnet.

      “Das war super! Sie sind der Hammer, wissen sie das?”
      “Ja. Mir hat es auch Spaß gemacht, Lara.” ich hielt ihr die Wange für ein Küsschen hin und sie hauchte mir eines darauf.
      “Wir trinken jetzt im Restaurant noch einen Kaffee.” sagte ich und gab mit einer Armbewegung die Richtung vor.

      Am Tisch gab ich ihr eine Visitenkarten von einem Salon um die Ecke. Kaan war ein Top- Friseur, dem ich vertraute und Dilara, Kaans Schwester, einer begnadeten Visagistin. Wer von diesen beiden unter die Fittiche genommen wurde, hatte gute Chancen seinen Wow-Faktor zu verdoppeln.

      “Was ist damit?” fragte Lara.

      “Du kannst da heute hingehen. Um 14:00 Uhr hast Du einen Termin bei Kaan, eine Stunde später bei seiner Schwester. Oder Du sagst ab. Ich erwische dich ja völlig unvorbereitet …”

      Lara schaute sehr unschlüssig.

      “Wir haben mit denen einen Rahmenvertrag. Als Model kannst Du da für die Dauer deines Vertrages einfach hingehen. Die sind einfach die Besten in ihrem Fach.”

      Lara schaute auf die Uhr und nickte dann.
      “Danke! Ich muss nur einen anderen Termin verlegen. Das ist aber kein Problem. Darf ich?”
      Sie zückte ihr Handy und ich nickte. Es war eine Lerngruppe, der sie absagte.

      “Tja, dann hast Du noch ein wenig Zeit. Fehlt Dir noch etwas?”
      Lara dachte nach, dachte an etwas, schüttelte dann den Kopf.
      “Nein, ich habe genug bekommen, vielen Dank.”

      Es war ein Schuss ins Blaue, aber was konnte einer so jungen Frau an Kleidung einfallen, was sie dann nicht in Gespräch brachte?
      “Gute Unterwäsche zur förmlichen Kleidung?”

      Lara wurde rot.

      “Das ist doch kein Problem. Ich liefere Dich bei Vera ab und verschwinde dann ganz dezent. Es ist aber entscheidend für das Gefühl und die Haltung, dass man sich bis auf die Haut gut gekleidet fühlt.”

      Wir tauschten noch schnell die Handynummern aus (“damit ich Dich notfalls erreichen kann”) standen auf und ich lotste die überwältigte Lara in die Dessous-Abteilung.

      “Vera! Bitte einmal die neue Ware mit dem Balkonette-BH in 75C und den beiden Slips in 36, ja?”
      “Gerne, Herr Balgenschneider!”
      Ich deutete ihr an, dass das auf mein Konto zu buchen wäre und empfahl mich dann bei den beiden Damen mit einer Verbeugung und einem warmen Blick.

      Ich hörte noch von Lara die Frage “Ist der Herr Balgenschneider immer so fürsorglich?”
      Und Veras diplomatische Antwort: “Es wird wohl einen Grund haben, aber nett ist er meistens.” Gute Frau.

      Kaan und Dilara hatten von mir natürlich schon Instruktionen erhalten. Ich wusste seit Tagen, wie Lara in zwei Stunden aussehen würde. Und ich würde Fotos als Bestätigung bekommen.

      Jetzt musste ich mich sputen, um mein Tagespensum wieder aufzuholen. Lara hatte mich viel Zeit gekostet. Und Geld. Hoffentlich eine gute Investition.

      Zum Feierabend konnte ich endlich einen Blick auf mein Handy werfen. Die junge Frau auf den Fotos war Vogue-tauglich. Super!
      Und auch Lara hatte geschrieben.
      “Lieber Herr Balgenschneider, ich danke für ihre Wahl. Sie hatten in allem Recht. Muss mich an mich noch gewöhnen, finde mich jedoch jetzt schon hochgradig hollyglamourwoodmäßig.” Es folgten Smilys … oder Emojis? Da konnte ich nur den Kopf schütteln … aber auf eine gute Weise. Egal, sie mochte die Veränderung!

      Ich ging zufrieden mit mir in den Feierabend.


      “Das muss die doch merken, dass der ihr den Daddy macht!” denke ich mir. Niemand kauft dir so viel und schon gar keine Unterwäsche, ohne etwas dafür haben zu wollen! Lara rennt doch kopfüber in den goldenen Käfig!
      Gut, ist ja unter Umständen auch gut auszuhalten. Vielleicht legt sie es ja sogar darauf an? Und ganz ungeschickt hat er es ja auch nicht angefangen, dieser Herr, hat sich nicht aufgedrängt.

      Ich schaue auf die Uhr.

      Noch eine Stunde bis Frankfurt.
      Mit einer verliebten Frau kann man alles tun, was sie will.
      (Gustav Klimt)
      Am nächsten Abend machte es erneut “Ping!”

      Noch eine Nachricht. Ein Bild. Lara hatte ein Selfie im Spiegel gemacht. Vom Bildausschnitt ein Halbbild im Dreiviertelprofil. Offene Bluse mit Spitzen-BH. Sehr ansprechend. Und ihr Gesichtsausdruck ging direkt in meine intimen Regionen.

      “Gut, dass ich gerade alleine in meinem Büro war … Sehr hübsches, aber böses Mädchen!” schrieb ich zurück.

      “Danke, ich fühle mich unglaublich gut.” und ein Kussmund … der Tag war wohl mit zahlreichen Komplimenten für sie verlaufen, resümierte ich grinsend.



      Ich habe es doch gewusst. Diese Lara treibt ihr eigenes Spiel!
      Das kann ja lustig werden.

      Nun war bald meine Zeit gekommen, um ihr ihren Platz zu weisen.
      Wir blieben locker in Kontakt bis der erste Probentag anstand.

      Wir hatten uns freundlich begrüßt und kurz geplaudert, bevor ich sie ihrem Schicksal überließ.
      Lara war plötzlich eine von 12 wunderschönen Frauen, alles keine professionellen Models. Doch Lara hatte noch gar keine Erfahrung.
      Heute würden die Kleider zugeordnet. Dazu wollten wir sehen, wie die Mädchen liefen.
      Eine einfach Choreographie war schnell besprochen und los ging es.
      Lara versuchte, sich den anderen anzupassen, im Strom mitzuschwimmen. Das wollte ich aber nicht. Sie sollte hart an sich arbeiten.
      Ein ums andere Mal kritisierte ich, gab ihr Anweisungen zu ihrer Haltung, indem ich ihren Körper mit meinem Herrenstock in Position schob. Ich demütigte sie vor allen anderen.
      “Bin ich denn so schlecht? Vielleicht sollte ich einfach gehen.”
      “Nein, Du kannst das und Du wirst dir gefälligst Mühe geben!”
      Tränen rannen ihre Wangen herab, aber ich ließ ihr keine Atempause.
      Natürlich waren die anderen Models nicht blind, tuschelten hinter uns. Mir war klar, dass sie mich unmöglich fanden. Sie waren froh, dass mein Eifer sie nicht traf - und hielten sich konsequent von Lara fern, um nur nicht in den Fokus zu geraten.
      Bei der zuordnung der Kleidung zu den Models wurde Lara eher mit den langweiligen Teilen bedacht, was sie sichtlich frustrierte.
      “Das große Abendkleid zum Finale lasse ich offen.” sagte ich zum Abschluss laut.
      Laras und mein Blick trafen sich. Ihre augen waren verheult, doch sie hoffte auf meine Gnade.
      Im Vorbeigehen zischte ich ihr leise zu “Du kannst es Dir verdienen, aber Du musst besser werden.”
      Trotzig schaute Lara weg, überkreuzte die Arme. Das zu korrigieren, war heute nicht wichtig.

      Natürlich hörte ich eine Woche nichts von ihr, aber ich war mir sicher, dass sie zum nächsten Probelauf käme. Und sie kam. Doch sie schmollte noch immer mit mir.
      Sie musste geübt haben. Sie beherrschte die Choreographie und lief ausdrucksstärker. Ihr Blick forderte mich heraus, sagte: “Sieh her, ich bin besser als Du dachtest.”
      “Das ist schon besser!” lobte ich sie knapp. Aber selbstredend hatte ich immer noch Verbesserungsvorschläge für Lara, was im Vergleich zu einigen anderen der Models lächerliche Kleinigkeiten waren.
      Es dauerte nicht lange, da war ihr Trotz in Verzweiflung umgeschlagen.
      “Du kannst das besser. Von Dir verlange ich mehr, Lara.”
      “Aber warum?”
      “Weil Du es dir schuldig bist. Du bist gut, aber Du kannst noch mehr.”
      Mein Blick hielt ihren fest, sicher eine Minute lang. Dann schaute sie zu Boden und ich ging.



      Die Generalprobe brauchten alle, um Sicherheit zu gewinnen, auch Lara.
      Fast alles klappte sehr gut. Die Modenschau würde ein Erfolg werden.
      Nur die Frage, wer das große Abendkleid tragen sollte, war noch offen.

      “Ihr habt hart gearbeitet, vielen Dank. Jetzt sollt ihr entscheiden dürfen, welche von euch das wundervolle Abendkleid vorstellen soll. Schreibt einen Namen auf eines dieser Kärtchen - nicht euren eigenen - und werft das Kärtchen hier in den Behälter. Dann zählen wir aus.”
      Wenn die Model fair waren, mussten sie zugeben, dass eigentlich Lara diese Ehre zukommen konnte.

      Eine Mitarbeiterin zählte aus. Acht der zwölf Stimmen entfielen auf Lara.

      “So sei es. Lara … schau bitte noch schnell bei den Schneiderinnen vorbei, damit wir das Kleid für dich anpassen.”

      In Lara kämpften die Empfindungen miteinander. Stolz, Wut, Dankbarkeit … sie atmete intensiv, als ob sie körperlich arbeiten müsste.

      “Geh’ früh schlafen, damit Du morgen wirklich fit bist, Lara.”
      Sie nickte wortlos
      Also blieb es bei einem “Gut gemacht!” von mir, dann ging ich.

      Am Tag darauf war Lara hochkonzentriert.
      Von meinem Platz aus konnte ich sehen, dass sie der heimliche Star der Vorführung war. Obwohl sie die unauffälligsten Outfits trug, zeigten immer wieder Besucher auf sie.
      Und als sie dann überraschend den Schlusspunkt setzen durfte und als sinnliche Schönheit im Abendkleid die Bühne einnahm, wurden ehrfürchtige Beifallsrufe laut, die eindeutig ihr galten.

      Zahlreiche Händedrücke und Glückwünsche nahm ich für die wundervolle Modenschau entgegen. Die Eigentümer und Stammkundinnen belagerten mich. Auch die Presse wollte noch Fotos …

      So dauerte es lange, bis ich endlich hinter die Kulissen gehen und den Models danken konnte. Doch wo war Lara? Ich wollte sie loben und in die Arme schließen.

      “Sie ist von einem jungen Mann abgeholt worden.” sagte mir jemand.

      “Ihr Bruder?” fragte ich reflexartig.

      “Eher nicht. Vermutlich war es ihr Freund.”

      “Ah, dann habe ich sie verpasst. Gut gemacht. Gute Nacht.”

      Es bereitete mir unendliche Mühe, die Fassung zu wahren.

      Ha, der große Meister ist sich zu sicher gewesen. Lara hat ihn echt hart getroffen. Der Altersunterschied ist wahrscheinlich zu groß. Und nicht jede Frau steht auf diese Art von Herausforderungen.
      “Du hast das geliebt, so gefordert zu werden.” gestand ich mir ein. Es war noch nicht lange her. Und ich war davor geflüchtet. Warum nur?
      Ich will nicht daran denken, nicht die Leere spüren. Ich drücke die Tränen weg.
      Lieber sollte ich diese Geschichte fertig lesen.

      Wie ein Schatten meiner selbst schaffte ich es noch die Pflichtzeit auf der Party zu verbringen und ging dann kraftlos heim.
      Mit einer verliebten Frau kann man alles tun, was sie will.
      (Gustav Klimt)
      Lara … ich weinte.

      “Ping!” SMS! Meine Hand schnellte zum Handy. Es war Lara.
      “Sie waren gemein, aber vielen Dank für alles. Tolle Show! LG Lara”

      Das war alles?
      Ich musste mir eingestehen, dass man nicht alles unter Kontrolle haben konnte. Ich würde trauern. Aber ganz ehrlich … die Chancen waren doch von Anfang an nicht groß gewesen. Obwohl …

      Es ging mir elend. Und es wurde auch in den nächsten Tagen nicht besser. Verletzter Stolz, gebrochenes Herz. Ich verkroch mich im Büro und behandelte jeden schlecht, der trotzdem hereinkam.

      Ob es Thorben auch so gegangen war? Oder noch geht? Er hatte mich im Trainingslager gedemütigt und mich sogar geschlagen … mit so einer Art Rohrstock. Immer wenn der Bewegungsablauf falsch war, setzte es einen kurzen Hieb auf die entscheidende Stelle.
      War ich nach dem Trainingslager besser als davor? Ja, sicher! Und Thorben ist auch kein Arsch. Aber er lässt nie locker. Und er lässt keinen Zweifel daran, wer die Regeln macht.

      Ich sollte nicht abschweifen und erst einmal die Geschichte zu Ende lesen.

      Es klopfte. Schon wieder.
      “Ja! Was ist denn!”
      Die Türe öffnete sich einen Spalt und eine mutige Kollegin schaute herein.
      “Herr Balgenschneider, hier ist Besuch für sie.”
      “Ich habe keinen Termin!” schimpfte ich zu laut.
      “Naja, jetzt schon.” sagte sie schulterzuckend und ließ den Besuch ein.
      “Lara!” entfuhr es mir zu erfreut.
      “Sie sind mir nicht böse?”
      “Doch, aber setz dich doch.”
      Oh, ich war echt sehr wütend. Aber ich wollte Lara noch immer. Reden konnte ich gerade nicht, also schwiegen wir uns an.
      “Herr Balgenschneider …” sie kämpfte um ihre Worte. “Ich will ihnen danken, dass sie so hart zu mir waren. Das hat alles geändert!”
      Ich hörte zu.
      “Sie haben mir Disziplin beigebracht, mir gar keine andere Wahl gelassen. Und sie haben mir gezeigt, wer ich sein kann.”
      “Weiter.”
      “Es fehlt mir.”
      Mein Herz hüpfte. Sie hatte es verstanden!
      “Es fehlt Dir?”
      “Ja.” sie nickte eifrig.
      “Du kannst es jederzeit wieder haben.”
      Ihr Blick schoss hoch und fixierte meine Augen.
      “Was muss ich tun?”
      “Du musst dich aufrichtig entschuldigen und mich bitten.”
      “Das ist alles?”
      “Ja, sicher.”
      “Es tut mir leid, dass ich nach der Show weggelaufen bin. Können Sie mir bitte weiter … dabei helfen, mich zu finden?” sagte sie.
      “Das klingt nicht überzeugend.”
      “Äh, … ich meine das aber so, ehrlich!”
      “Was hast Du gelernt?”
      Sie schaute mich verständnislos an.
      “Einheit von Körper und Geist, innere und körperliche Haltung, …”
      Sie verstand langsam und mein Blick gab ihr die Richtung vor. Es kostete sie Überwindung, aber darum ging es ja.
      Seufzend stand sie auf, lief um meinen Schreibtisch herum und kniete sich neben mich.
      “Bitte, nehmen Sie meine Entschuldigung an. Ich möchte weiter von Ihnen lernen, Herr …”
      Ich hob ihr Kinn, schaute in ihre schönen Augen.
      “Akzeptiert.” antwortete ich knapp.
      Dann küssten wir uns zum ersten Mal.

      Verdammt. Das nagt an mir.
      Noch einmal verdammt! Der Zug ist schon fast im Bahnhof!
      Schnell packe ich Reiseproviant, Wasserflasche und mein Tablet ein, greife Jacke und Koffer, um mich in die Schlange der Aussteigenden einzureihen.
      Ich stehe eingepfercht im Gang, aber meine Gedanken rasen durch die Gefühlswelt und meine Optionen. 15 Minuten länger hat mir die Deutsche Bah gegönnt, um mir klar zu werden, was ich in Frankfurt wirklich will.

      “Gute Gedanken haben - wie Bummelzüge - häufig Verspätung.” fällt mir ein und ich muss wirklich lachen. Das habe ich früher immer in Freundschaftsbücher geschrieben. Leute schauen mich an, man lacht schließlich nicht einfach so ohne Grund. Wo kämen wir denn da hin, wenn das jeder machte!
      Aber ja, es waren genau diese 15 Minuten zum Fertiglesen der Geschichte, die mir halfen zu verstehen.

      Ich brauche schnell ein Taxi. Ein Taxi zu Thorben.

      Im Strom der Reisenden nähere ich mich dem Kopf des Gleises und suche bereits, wie ich am schnellsten zu den Taxis komme.
      “Tatjana? Tatjana!”
      “Was?”
      “Tatjana, warte doch!”
      “Thorben? Was machst Du hier?” Das kann nicht sein. Ich träume!
      “Deine Schwester hat mir verraten, mit welchem Zug du kommst. Wenn Du dich schon nicht an Weihnachten meldest, dann fahre ich Dich wenigstens heim.”
      “Thorben …” Ich bin wie Lara. Ich weiß es.
      Er schweigt erwartungsvoll.
      Mein Kloß im Hals ist fast schmerzhaft.
      Ich gehe auf die Knie. “Entschuldige. Ich weiß jetzt, dass ich dich brauche. Willst Du mich zurück?”
      Leute schauen uns an, bleiben stehen und tuscheln, aber Thorben lässt mich weiter knien und warten.
      “Der Platz steht dir. Findest du nicht auch?” stichelt er.
      “Ja.” sage ich demütig.
      Es wird immer peinlicher, wie viele Leute um uns stehen bleiben. Wie sieht das denn aus!
      Thorben spricht plötzlich sehr laut: “Das ist zwar nicht die übliche Art es zu tun, aber wenn Du mich schon fragst, sage ich von Herzen ‘Ja, ich will!’”
      Unter dem Applaus der Umstehenden zieht er mich hoch und küsst mich.
      “Und jetzt ab nach hause! Wir haben zu reden!” zischt er in mein Ohr.
      Wie er es sagt, jagt mir wohlige Schauer den Rücken hinunter.
      Mit einer verliebten Frau kann man alles tun, was sie will.
      (Gustav Klimt)