4.12. ❅ Boléro

    Diese Seite verwendet Cookies. Durch die Nutzung unserer Seite erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Cookies setzen. Weitere Informationen

      4.12. ❅ Boléro

      Wenn euch die Geschichte gefallen hat, dann freut sich die Autorin über eure Likes und Kommentare!
      Bitte liked jedoch nicht diesen Beitrag, da er nicht von der Autorin eingestellt wurde, sondern im Rahmen des Geschichtenadventskalenders. Die Autorin wird, sofern sie es möchte, zeitnah hier eine Antwort posten. Diese dann bitte liken, so dass eure Likes auch bei ihr ankommen.



      ❅ 4. Dezember ❅

      ╔═══════ » ❅ « ═══════╗

      Boléro

      ╚═══════ » ❅ « ═══════╝

      von @Primrose


      Zu dieser Geschichte gibt es eine Hörversion


      » ❅ «


      Forschend betrachtet sie sich im Spiegel, begegnet ihrem eigenen Blick. Sie schaut in die Augen einer Frau, die sie in den letzten drei Jahren auf eine ganz neue Weise kennen gelernt hat. Erstaunen liegt in ihrem Blick und eine tiefe Ruhe. Zufriedenheit. Heimat- sie wusste lange nicht, was das ist. Sie lächelt sich selbst im Spiegel zu, streift sanft den Kimono von ihren Schultern, ein Hauch von Stoff. Dann geht sie langsam den Flur entlang Richtung Wohnzimmer, die Holzdielen schmiegen sich warm an ihre bloßen Füße. Bedächtig entzündet sie die dicken Stumpenkerzen, die sie auf dem Boden angeordnet hat, und schickt ihm ein Foto davon. „Ich erwarte dich“, schreibt sie dazu. Dann sinkt sie auf die Knie, inmitten der brennenden Kerzen. Sie wird lange hier knien und auf ihn warten. Noch scheint das Licht der Kerzen nicht besonders hell, das letzte Tageslicht ist noch nicht erloschen. Doch später, wenn er endlich nach Hause kommt, werden sie umso heller leuchten. Sie versinkt in andächtige Stille.

      In jedem Menschen gibt es einen Ort, an dem er ganz bei sich zu Hause, auf ureigenste Weise er selbst ist. Manche finden diesen Ort beim Gärtnern oder Musizieren, andere, wenn sie mit dem Motorrad über die Straßen fegen oder über weite Ebenen fliegen; wieder andere beim Holzhacken oder Malen, beim Schreiben, Handwerken oder Meditieren, beim Anblick der Schönheit der Natur oder wenn sie mit ihren Kindern spielen. Wahrscheinlich existieren so viele Orte und Wege, diese zu erreichen, wie es Menschen auf dieser Erde gibt.

      Und obgleich sie viele dieser Dinge liebt, findet sie ihren Ort am eindrücklichsten in ihrer Unterwerfung. Das ist längst nicht immer so gewesen. Im Gegenteil, lange Zeit hat sie nichts von diesem Ort gewusst, ihn in manch stillem Moment vielleicht erahnt. Sie ist auf der Suche gewesen nach diesem Ort, der ganz ihr eigener ist, ruhelos, ein wenig getrieben, auf unerklärliche Weise unerfüllt. Und dann, an einem Winterabend, hat sie ihn ganz überraschend gefunden, auch wenn sie damals noch nicht gewusst hat, dass er ihre Heimat werden würde. Zumindest hat sie damals den langen Weg nach Hause begonnen. Sie lächelt versonnen und ihre Gedanken wandern zurück zu jener kalten Nacht vor etwas mehr als drei Jahren.

      ❅❅❅❅❅

      Sie ist auf dem Weg zum Auto, müde, in Gedanken versunken, als sie plötzlich Schritte hinter sich hört. Eilige Schritte, die rasch näher kommen. Schritte im Dunkeln. Sie läuft schneller, wirft einen hektischen Blick zurück. Es ist schon spät, Dunkelheit umgibt sie, die Straße ist menschenleer. Sie hat ihr Auto fast erreicht, als er sie einholt. „So leicht entkommst du mir nicht! Immer läufst du davon!“ Er wirkt ein wenig genervt, vorwurfsvoll. Sie atmet erleichtert auf, als sie seine Stimme erkennt. „Jonathan! Was willst du denn hier?!“ Ihre Stimme klingt schroffer als beabsichtigt, aber sie friert, ist abgespannt vom Tag und will nur noch nach Hause in ihr warmes Bett, sich die Decke über den Kopf ziehen und alles um sich herum vergessen. Außerdem hat er sie erschreckt. „Ich will mit dir reden, aber du rennst ja ständig weg!“, murrt er. Sie will nicht reden, schon gar nicht jetzt. Er soll sie in Ruhe lassen, so einfach ist das. Aber so einfach macht er es ihr nicht. „Lass uns ein anderes Mal reden, ja!“, murmelt sie. „Ich muss jetzt wirklich nach Hause.“

      Sie wendet sich ab und will schon die Fahrertür öffnen, als er sie an der Schulter packt und wieder zu sich herumdreht. „Hey, jetzt warte doch mal. Ich rede mit dir!“, schnaubt er und fügt sanfter hinzu: „Ich sehe doch, dass es dir nicht gut geht!“ Der Satz trifft sie unvorbereitet. Fassungslos starrt sie ihn an. Mit einem Satz hat er ihre Fassade heruntergerissen, die sie so mühsam errichtet hat. Er hat es geschafft, sich an ihrer Abwehr vorbeizuschmuggeln, sie im Inneren zu berühren, vielleicht, weil sie so müde ist, vielleicht auch, weil sie es leid ist, immer die Starke zu sein. Sekundenlang ist sie wie erstarrt, Tränen schießen in ihre Augen, als sie seinem Blick begegnet- dann hat sie sich wieder im Griff. Sie wird jetzt nicht weinen, nicht hier auf offener Straße, nicht vor ihm. Sie muss einfach nach Hause, das ist alles. Ihr Blick wird hart. Sie kann ihm jetzt nicht in seine warmen, braunen Augen sehen, die sie betrachten, forschend zwar, aber mitfühlend. ,Reiß dich zusammen!‘ ermahnt sie sich selbst, ,konzentriere dich!‘ Sie versucht, ihn von sich zu schieben, um endlich in ihr Auto steigen zu können, aber er lässt sich nicht abwimmeln. Stattdessen stützt er sich mit den Händen rechts und links von ihr am Auto ab und hält sie so zwischen sich und dem Wagen gefangen. „Was ist denn mit dir los?“, bohrt er nach. „Lass mich einfach!“, faucht sie und versucht, unter seinem Arm hindurchzutauchen, um endlich von ihm weg zu kommen, aber er schiebt einfach sein Knie davor und schaut sie weiter fragend an. Innerlich verflucht sie ihn und schließt genervt die Augen, lehnt sich gegen die Autotür. Er scheint entschlossen, sie nicht ohne eine Antwort davonkommen zu lassen, die sie wiederum nicht bereit ist, ihm zu geben. Wenn das so weitergeht, stehen sie noch ewig hier. Sie kennt seine Hartnäckigkeit. Wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, ist er nicht so leicht davon abzubringen.

      „Ich komm schon klar“, versucht sie es erneut, bemüht, ihre Stimme ruhig und gefasst klingen zu lassen. Er schüttelt den Kopf: „Du brauchst jemanden, der sich um dich kümmert!“ Wut flammt in ihr auf, zornig funkelt sie ihn an, aber noch ehe sie ihm eine Antwort entgegenschleudern kann, fügt er leise hinzu: „Nicht, weil du alleine nicht klar kommst. Ich weiß, dass du stark bist! Ich kenne dich doch. Sondern einfach, weil es sich gut anfühlt, wenn jemand da ist und auf dich aufpasst.“ Wortlos starrt sie ihn an. Was soll sie darauf schon sagen. Kann er etwa ihre innersten Träume ahnen, ihr sorgsam gehütetes Geheimnis erraten? Sie atmet gedehnt aus und senkt den Blick. Irgendwie läuft das hier nicht nach ihrem Plan. Sie ist es gewohnt, dass die Dinge funktionieren, wie sie will, und das ist hier ganz und gar nicht der Fall. Und, so irritierend das ist, es fühlt sich nicht verkehrt an. Auf eine verrückte Art und Weise scheint er richtig zu liegen mit dem, was er tut, auch wenn sie es nicht einordnen kann. Er spürt, wie sie weicher wird und streicht ihr flüchtig über die Wange. „Wenn du mir gehören willst, dann trage das nächste Mal etwas Rotes, wenn wir uns begegnen. Du musst wissen, ich begehre dich schon lange. Wenn du dich nicht darauf einlassen möchtest, ist das auch okay. Dann bleiben wir einfach weiterhin gute Kollegen. Überlege es dir.“ Er lächelt sie gewinnend an, hält ihren Blick mit dem seinen fest. Dann tritt er einen Schritt zurück und gibt sie frei. Fast bedauert sie, als er sie aus seiner Nähe entlässt. „Und jetzt fahr vorsichtig und komm gut nach Hause“, grinst er. Sie nickt verwirrt und lässt sich in ihr Auto fallen.

      ❅❅❅❅❅

      Allmählich wird es draußen dunkel. Um diese Jahreszeit setzt die Dämmerung schon früh ein, die Tage werden kürzer, Weihnachten steht bald vor der Tür. Lange Schatten kriechen aus den Ecken des Zimmers; die Kerzen flackern hell, bilden einen Halbkranz aus Licht um sie herum. Sie streckt sich ein wenig, biegt ihren schmerzenden Rücken durch. Ein leises Seufzen kommt über ihre Lippen. So langsam tun auch ihre Beine weh vom langen Knien. Hoffentlich lässt er nicht mehr allzu lange auf sich warten. Sie schaut durch die breite Fensterfront hinaus in den Garten, der ruhig und dunkel vor ihr liegt. Ein feiner Schneeregen hat sich gebildet; kleine, helle Punkte, die in der Dämmerung tanzen. Ihr Blick bleibt an ihnen hängen, beobachtet ihr Wirbeln und Kreisen und ihre Gedanken folgen ihnen, lassen sich mit ihnen treiben.

      ❅❅❅❅❅

      Dieser Beitrag wurde bereits 1 mal editiert, zuletzt von AleaH () aus folgendem Grund: Verlinkung der Hörversion eingefügt

      Sie fährt nach Hause, müde und doch zu aufgeregt, um zu schlafen, als sie endlich in ihrem Bett liegt. Unruhig wälzt sie sich hin und her, mühsam versucht, ihre Gedanken zu sortieren, einzuordnen, was da eben passiert ist. „Ich begehre dich schon lange“- hat er das wirklich gesagt? „Ich begehre dich…“, wiederholt sie innerlich, „…schon lange.“ Schon lange?! Wie lange? Warum hat sie nichts davon geahnt? Sicher, er ist nett, freundlich, zuvorkommend, aber das ist er zu jedem oder nicht? Er hat besondere Umgangsformen, das ist ihr aufgefallen, ein wenig- höflicher als die meisten. Er wirkt auf eine unaufgeregte Weise selbstbewusst, in sich ruhend, unaufdringlich. Er grüßt sie lächelnd, sie wechseln immer ein paar freundliche Worte, wenn sie sich auf dem Flur oder in der Kantine begegnen. Beruflich haben sie nicht allzu viel miteinander zu tun. Hin und wieder telefonieren sie, gelegentlich geht sie auch zu ihm hinüber ins Büro, um etwas mit ihm abzusprechen. Ab und zu sehen sie sich bei größeren Meetings, wenn die ganze Abteilung zusammenkommt. Dann hat sie sich zuweilen dabei ertappt, dass sie ihn verstohlen betrachtet, ihre Augen an seinem Gesicht hängenbleiben und sie ihn beobachtet, wie er konzentriert zuhört und doch zwischendurch sein Blick sehnsüchtig in die Ferne wandert. In diesen Momenten hat sie sich gefragt, wovon er wohl träumen mag.

      Privat sehen sie sich häufiger, seit ein Kollege ihn mit zu einem ihrer Spieleabende geschleppt hat, die sie regelmäßig mit ein paar Leuten aus der Firma abhalten. So auch heute Abend, als er sie am Auto aufgehalten hat. Bei diesen Gelegenheiten, wenn sie in geselliger Runde zusammensitzen, hat sie manchmal seinen aufmerksamen Blick auf sich gespürt, bemerkt, wie er sie nachdenklich betrachtet. Dann hat sie schnell einen Witz gerissen, irgendeine Anekdote erzählt, nur um von der Situation abzulenken. Geschickt ist sie ihm stets ausgewichen. Nie hätte sie geahnt, dass er sich näher für sie interessieren könnte-und jetzt das. Unwillkürlich schüttelt sie den Kopf und versucht, das verwirrende Gefühl seiner Nähe zu vertreiben. Wie er sie angesehen und einfach nicht weggelassen hat! Was hat er sich nur dabei gedacht! Bei dem Gedanken daran wird sie fast ärgerlich auf ihn und muss sich doch eingestehen, dass es ihr gefallen hat. Noch nie hat sich jemand ihr dermaßen hartnäckig in den Weg gestellt und so effektiv ihre Pläne durchkreuzt, sich mit ihrem Schmerz zu verkriechen. „Wenn du mir gehören willst…“, das waren seine Worte. Ihm gehören- sie schmeckt den Satz auf der Zunge. Wie sich das anhört! Bei dem Gedanken wird sie ganz unruhig. Er hat sie durchschaut. Nur was soll sie jetzt damit anfangen?

      Die nächsten Wochen vermeidet sie es, ihm zu begegnen. Sie wüsste nicht, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte. Aber er geht ihr nicht aus dem Kopf und immer wieder schleichen sich Erinnerungsfetzen von ihrer letzten Begegnung in ihre Gedanken, vermischen sich mit Fantasien und Zukunftsträumen. Schon lange sehnt sie sich heimlich danach, sich jemandem anzuvertrauen, sich ihm ganz hinzugeben. Das Bedürfnis, sich jemandem zu unterwerfen, den sie begehrt und verehrt, ihren eigenen Willen dem seinen unterzuordnen, hat sie sorgfältig versteckt vor der Welt und auch vor sich selbst, ja, diesen Wunsch gar als Spinnerei abgetan. Und nun hat er etwas in ihr aufgedeckt, was zuvor gut verborgen schien. Nicht gut genug offenbar. Er hat sie an einer Stelle ihrer selbst berührt, die sie für nicht vorzeigbar, unangemessen, verrückt gehalten hat. Sie hat versucht, diese Sehnsucht zu verleugnen, zu verdrängen, um sich nicht mit ihr auseinandersetzen, sich diesem inneren Dämon nicht stellen zu müssen. Denn für einen Dämon hält sie dieses unerklärliche Verlangen nach starken Händen, die sie sicher am Abgrund entlang führen. Freilich ein sehr faszinierender Dämon, das muss sie zugeben. Dieses Kribbeln im Bauch, das sein Auftauchen jedes Mal hinterlässt, wenn ihre Fantasie mit ihr durchgeht. Sie kichert verschämt in sich hinein und fährt sich nervös mit der Hand durch das Gesicht. Eine gestandene Frau wie sie, erfolgreich, tough. Und jetzt das! Das ist einfach zu lächerlich! Oder vielleicht doch nicht? Er hat so selbstverständlich dabei gewirkt, wie er mit ihr umgegangen ist, so als wäre es die natürlichste Sache der Welt. Er schien kein Unbehagen dabei zu spüren, im Gegenteil. Was hat er da nur in ihr angerichtet?!

      Als ihre innere Drehbuchautorin eine Überstunde nach der nächsten schiebt, um ihr Kopfkino mit immer neuem Stoff zu versorgen, entschließt sie sich nach einer weiteren schlaflosen Nacht, etwas zu unternehmen und den verwirrenden Gefühlen auf den Grund zu gehen. Sie weiß, dass es zuweilen den Mut einer Heldin oder das Herz einer Löwin braucht, um der innersten Sehnsucht zu folgen, und so steht sie entschlossen auf, um sich für die Arbeit fertig zu machen. Die nächsten Stunden verbringt sie mit Papierkram, belanglosem Smalltalk mit den Kollegen, entbehrlichen Telefonaten. Als sie bemerkt, dass jeder weitere Aufschub sie ihrem Ziel kein Stückchen näher bringt, strafft sie die Schultern und marschiert hinüber in sein Büro. Der Weg ist ungewöhnlich lang, ihre Schritte hallen in dem leeren Flur. Ihr ist, als würde das Klackern ihrer Absätze sie verraten, mit jedem Schritt verkünden, dass hier etwas Bemerkenswertes vor sich geht. Dann ist sie endlich da.

      Als sie sein Büro betritt, hat sie schon vergessen, welchen Vorwand sie sich ausgedacht hat, um ihn aufzusuchen. Sie sprechen über das Wetter, Kollegen, den neusten Tratsch. Er beobachtet sie aufmerksam, versucht herauszufinden, in welcher Absicht sie gekommen ist, bleibt freundlich- zurückhaltend, wie sie es sonst von ihm gewohnt ist. Hastig springt sie von einem Thema zum anderen und beendet dann abrupt das Gespräch. „Ich muss dann jetzt auch“, meint sie schnell und wendet sich ab. Sie hat schon fast die Tür erreicht, da hört sie plötzlich seine Stimme, leise, bestimmt: „Annabelle!“ Sie hätte nicht gedacht, dass er ihren richtigen Namen kennt. Die Kollegen nennen sie stets Anna, niemand ruft sie bei ihrem vollen Namen. Annabelle- der Name wirkt wie eine Zauberformel aus seinem Mund, lässt sie aufhorchen. Seine Stimme klingt eindringlich: „Warte!“ Sie bleibt stehen, mitten im Raum, ohne sich umzusehen, wartet einfach ab, was geschieht. Sie spürt, wie er hinter sie tritt, ihr sanft seine Hände auf ihre Schultern legt: „Die rote Schleife passt wunderbar zu deinen schwarzen Haaren! Ich nehme an, du trägst sie nicht zufällig?!“

      ❅❅❅❅❅

      Noch immer muss sie bei der Erinnerung an diesen Satz lächeln. Es ist, als spürte sie noch seine warmen Hände auf ihren Schultern, die sie seitdem so viele Male berührt haben: mal liebevoll und zart, sie neckend, liebkosend, beruhigend, dann wieder fordernd und unnachgiebig, hart. Wie sie seine Hände auf ihrem Körper liebt, wenn sie ihm das ganze Spektrum an Tönen entlocken, das ihr Körper zu bieten hat: schrill und melodisch, wohlig schnurrend und unwillig fauchend, heiser und samtig, schmeichelnd und rau. Sie liebt sein Spiel mit ihrem Körper und mehr noch mit ihrem Geist. Er entführt sie in Welten, von denen sie zuvor nur zu träumen gewagt hat. Ihre Welt, ihr Ort, den sie gemeinsam betreten, und der doch ihr ganz eigener ist; der Ort, an dem sie sein kann, wie sie wirklich ist. Ihr Atem geht ruhig und tief, sie lauscht in sich hinein. Trotz der Schmerzen durch das lange Knien und der leichten Kälte auf ihrer Haut ist sie jetzt ganz bei sich selbst. Viel ist seit jener Begegnung vor drei Jahren zwischen ihnen passiert. Sie ist die Seine geworden mit Haut und Haar; sie hat bei ihm das Zuhause gefunden, nach dem sie sich gesehnt hat. Er umhüllt sie mit seiner Wertschätzung und Wärme und lässt sie doch unmissverständlich spüren, dass sie ihm gehört. Noch immer beschert es ihr dieses wohlige Kribbeln im Bauch, wenn er keinen Zweifel daran lässt, dass sie zu gehorchen hat. Ihr Blick wandert durch den Raum und bleibt am großen Esstisch hängen; sein Anblick entlockt ihr ein Schmunzeln.

      ❅❅❅❅❅
      Es ist spät geworden, der Tag war lang. Sie sitzen gemütlich im Wohnzimmer und essen gemeinsam zu Abend, erzählen sich von den Ereignissen des Tages. Wie meistens unterhalten sie sich angeregt, der Gesprächsfluss zwischen ihnen scheint selten zu versiegen. Sie ist aufgekratzt, übermütig und um eine Antwort ist sie ohnehin selten verlegen. Dafür liebt sie die Wortscharmützel zwischen ihnen einfach zu sehr und kann sich diebisch über eine gelungene Replik amüsieren. Ihr innerer Kobold hat die Fährte aufgenommen und arbeitet auf Hochtouren. Mit funkelnden Augen schaut sie ihn über den Esstisch hinweg an, immer auf der Lauer nach einer neuen Pointe, die sie ihm um die Ohren pfeffern kann. Wie er diese Frau liebt! Er beobachtet sie belustigt, während sie das Spiel immer weiter treibt und der Schalk in ihren dunklen Augen glitzert. Diese verbalen Gefechte machen ihm genauso viel Freude wie ihr und eine ganze Weile lässt er sie gewähren, aber irgendwann wird es ihm zu bunt.

      Energisch zerknüllt er die Folie eines Schokoriegels, den er sich gerade zum Nachtisch gegönnt hat, und wirft die kleine Papierkugel schwungvoll in den Raum. „Heb das auf!“, meint er beiläufig und schaut sie auffordernd an. Überrascht reißt sie die Augen auf, starrt ihn an. ,Das kann er doch nicht ernst meinen! Ich bin doch kein Hund, dem man ein Stöckchen wirft!‘, schießt es ihr durch den Kopf. Unbeeindruckt erwidert er ihren Blick. Er scheint nicht den leisesten Zweifel zu hegen, dass sie tun wird, was er verlangt. Einen Moment lang duellieren sich ihre Blicke, dann steht sie auf. „Runter auf alle viere!“, befiehlt er, noch bevor sie einen Schritt nach vorne machen kann. Sie seufzt. Für einen Bruchteil verharrt sie in der Bewegung. ,Das kannst du doch nicht wirklich tun!‘ wispert diese leise Stimme in ihr, die sich bisweilen verlegen zu Wort meldet. ,Natürlich kann ich, das weißt du doch‘, entgegnet sie der Stimme gelassen. Die letzten drei Jahre haben sie gelehrt, dass es nicht die Frage ist, ob sie tut, was er von ihr will, sondern höchstens mit wie viel Widerstand oder Demut.

      Erregung rieselt durch ihren Körper wie Sand in einem Stundenglas, landet zielsicher in ihrem Schoß, als sie sich hinunter auf den Boden gleiten lässt. Zuweilen erstaunt es sie immer noch, wie viel Unterwürfigkeit er in ihr hervorlockt, wenn er sie so behandelt wie gerade jetzt, wie ergeben sie sich ihm dann fühlt, und wie sehr sie es genießt, ihm zu Willen zu sein. Mit geschmeidigen Bewegungen kriecht sie auf die kleine Papierkugel zu, langsam, lasziv, sich bewusst, welchen Anblick sie ihm bietet. Gerade als sie die Hand nach dem zerknüllten Schokopapier ausstrecken will, korrigiert er sie scharf: „Mit dem Mund!“ Kurz bäumt sich nochmal Widerstand in ihr auf, dann senkt sie folgsam ihren Kopf und nimmt das Papierstück zwischen die Lippen. „Bring es mir!“, kommandiert er gelassen und beobachtet mit Genugtuung, wie sie gehorsam umdreht und auf ihn zukriecht. Er weiß, welche inneren Kämpfe sie bisweilen ausficht und wie viel Überwindung es sie mitunter kostet, sich ihm zu fügen. Als sie ihren Blick hebt, sieht sie Stolz und Liebe in seinem Blick- und einen Funken Süffisanz. „Brav“, lobt er mit leisem Spott, als sie das Papier vorsichtig in seine ausgestreckte Hand legt. Dieser letzte Satz und sein leicht herablassender Tonfall, dieser Anflug von Überheblichkeit, machen die Demütigung perfekt. Die Sanduhr ist durchgelaufen, das letzte Korn hat sein Ziel erreicht. Sie ist an ihrem Ort angekommen, zu seinen Füßen, weich und hingebungsvoll, bereit für ihn und das, was er von ihr fordert. Sanft reibt sie ihre Wange an seinem Knie und schmiegt sich an seine Beine.

      ❅❅❅❅❅

      Sie schreckt aus ihren Träumereien hoch, als sie plötzlich seine Schritte vernimmt, hört, wie er die Tür aufschließt. Mittlerweile ist es draußen stockfinster. Sie lauscht seinen vertrauten Bewegungen, seinem Rascheln in der Diele, dem Wasser im Bad. Und dann ist er bei ihr, endlich! Sie verharrt regungslos und auch ohne sich umzudrehen, spürt sie seinen Blick auf ihr. Er betrachtet sie stumm, wie sie dort kniet, mitten im Wohnzimmer, im sanften Licht der Kerzen, nackt, nur die rote Schleife in ihrem geflochtenen Haar. Einen Moment lang verweilt er, genießt den Anblick, der sich ihm bietet: seine Annabelle, wie sie dort auf ihn wartet. Ihr dunkler Zopf fällt ihr lang über den Rücken, bildet einen schönen Kontrast zu ihrer hellen Haut. Auch wenn sie sich nicht rührt, bemerkt er doch die Anstrengung in ihrer Körperhaltung. Er muss sie endlich erlösen.

      Behutsam tritt er hinter sie, streicht ihr zärtlich über das Gesicht, den Nacken, die Schultern. Sie schmiegt sich in seine Hand, empfängt dankbar die Liebkosung. Seine Hand fährt weiter zu ihrem Hals, umfasst ihre Kehle, bleibt dort einen Augenblick ruhig liegen. Dann legt er ihr das Halsband an, das sie schon bereit gelegt hat. Seine Hand wandert tiefer zu ihren Brüsten, die sich sanft im Rhythmus ihrer Atemzüge wiegen. „Du trägst die rote Schleife“, bemerkt er leise. „Erinnerst du dich, heute vor drei Jahren…“, flüstert sie. „Natürlich, wie könnte ich das vergessen!“, entgegnet er und umspielt ihre Knospen, nimmt ihren Körper in Besitz, der sich ihm unwillkürlich entgegenstreckt. Mit der freien Hand greift er fest in ihren Zopf und zieht ihr den Kopf in den Nacken, beugt sich zu ihr hinunter und küsst sie gierig. Sie schaut zu ihm hoch, ihr Blick ist so erwartungs- und vertrauensvoll, dass er lächeln muss. „Eigentlich hatte ich ja vor, heute Abend mit dir essen zu gehen“, meint er schmunzelnd, „aber erst will ich mit dir tanzen!“

      Er entfernt sich kurz, kehrt zurück und bleibt direkt vor ihr stehen: „Gib mir deine Hände!“ Doch statt ihr aufzuhelfen, schlingt er rasch ein Seil um ihre Handgelenke, zieht die gefesselten Hände über ihren Kopf nach hinten und befestigt das Seil an ihrem Halsband. Durch die im Nacken gebundenen Hände muss sie den Rücken stärker durchstrecken, wodurch ihre Brüste weiter nach vorne gedrückt werden. Er betrachtet sie liebevoll und brummt zufrieden. Dann tritt er wieder hinter sie, windet mit zielstrebigen Bewegungen das Seil um ihren Körper. Rotes Seil, das Muster auf ihre bloße Haut malt, um ihre Brüste, den Nacken, über den Bauch und zwischen ihren Beinen hindurch. Der Zug des Seils, das sich eng um ihren Körper schmiegt, sie umschließt, sie näher zu ihm und zu sich selbst hinzieht- sie schließt die Augen, gibt sich ganz der Berührung des Seils und seiner Hände hin.

      Wie aus weiter Ferne dringt plötzlich ein leises Trommeln an ihr Ohr. Zaghaft, zunächst kaum wahrnehmbar, stiehlt es sich zu ihr, wird lauter, zieht ihre Aufmerksamkeit auf sich, lockt sie aus ihrer Versenkung. Der unverkennbare ¾- Takt der kleinen Trommel, der charakteristische Ostinato- Rhythmus, der das ganze Stück durchzieht. Der Boléro von Maurice Ravel, sie erkennt ihn sofort. Ein Leuchten überzieht ihr Gesicht, sie liebt dieses Stück! Vorsichtig öffnet sie die Augen und strahlt ihn an: dass er ausgerechnet dieses Stück ausgewählt hat! Der Rhythmus der Trommel versetzt ihren Körper in Schwingung; ein leichtes Vibrieren, das sich ausbreitet, in jeder Zelle fortsetzt, eine leise Erregung aufkeimen lässt. Eine einzelne Querflöte setzt ein, eine klare, reine Melodie; gemächlich, sinnlich, lädt sie ihren Körper ein, sich in ihrem Klang zu wiegen. Unwillkürlich folgt ihr Körper der Aufforderung, nimmt die Melodie auf, beginnt, sich kaum sichtbar mit ihr zu bewegen.

      Er beobachtet sie lächelnd und tritt dann zu ihr heran: „Darf ich bitten?!“ Er hebt sie hoch und stellt sie vorsichtig auf ihre Füße, hält sie eng an seinen Körper gedrückt, wiegt sich sanft mit ihr, bis ihre Beine wieder fähig sind, sie zu tragen. Eine Klarinette hat die Melodie übernommen, wird abgelöst vom dunkleren Fagott, das tief in ihrem Inneren ein Beben hinterlässt. Seine Bewegungen werden weiter, raumgreifender, schieben sie von sich weg, ziehen sie wieder heran. Anmutig folgt sie seinen Forderungen, der Melodie, lässt sich ganz in diesen Tanz hineinfallen. Mit den gefesselten Händen hinter ihrem Kopf, die Ellbogen hoch erhoben, ihr Rücken sanft nach hinten gebogen, hebt sie sich auf die Fußballen und schwebt über den Holzboden, lockt, reizt, verführt. Das Seil scheuert ein wenig auf ihrer Haut, reibt an ihrer Scham bei jedem Schritt, erinnert sie lustvoll daran, wessen Eigentum sie ist. Eine sich ständig wiederholende Melodie, die sie in Trance versetzt.

      Weitere Instrumente setzen ein, die Musik wird immer intensiver, ergreift sie, packt ihren Körper, wiegt ihn lasziv, beugt ihn nieder, hebt ihn empor. Ein ständiges Crescendo, mit dem auch seine Bewegungen zunehmend besitzergreifender werden, fordernder. Mit einer Hand fasst er fest in ihre Haare, die andere Hand an ihrer Taille, dirigiert er sie durch den Raum, stößt sie von sich, fängt sie wieder ein, wirbelt sie umher. Sie muss sich seiner Führung anvertrauen, sich ganz in seine Hände geben, um nicht die Balance zu verlieren. Er greift sich einen Flogger und schlägt sie im Takt der Musik. Es ist ein Feuerwerk der Sinne: die Musik, die anschwillt, ihr unerbittlicher Rhythmus, den die Peitsche ihr mit jedem Schlag auf die Haut prägt; seine Hände, die sie freilassen, halten, biegen; das Brennen der Lederriemen des Floggers auf ihrem Körper, der sich ihm ungeschützt und wehrlos darbietet. Sie beugt sich seinem Willen, lässt sich fallen, tragen, schlagen, neigt sich, richtet sich auf, dreht sich auf den Zehenspitzen, lässt sich gefangen nehmen von der Kraft seiner Arme und der Musik.
      Die Peitsche schwirrt durch die Luft, verbindet sich mit dem Rhythmus der Instrumente, knallt auf ihren Leib, trifft sie an Po und Schenkeln, streicht über Brüste und Bauch, streift ihren Rücken, entfacht Hitze in ihr, treibt ihre Erregung in die Höhe. Immer wilder wird ihr Tanz, immer leidenschaftlicher, ungezügelter. Die Lust lodert hell zwischen ihnen, sie sind wie berauscht. Ihre Blicke sprühen Funken, sobald sie sich treffen; ihre Körper verschmelzen zu einer Bewegung, werden eins.

      Ein paar Takte noch, das gesamte Orchester hat nun den Grundrhythmus übernommen, die Musik steigert sich zu einem furiosen Finale. Basstrommel und Becken donnern heran, Posaune und Saxophon beherrschen eindringlich das Stück. Ein letztes Crescendo, die Musik erreicht ihren Höhepunkt, erschütternd, ekstatisch. Dann Stille. Plötzlich, überraschend fast nach dem Tosen, das sie noch eben umgeben hat. Schwer atmend kommen auch die beiden Tänzer zur Ruhe, ihre erhitzten Körper pressen sich aneinander, ihr Herzschlag dröhnt im Nachklang dieses musikalischen Rausches, der sie mitgerissen hat. Einen Moment lang verweilen sie schweigend, spüren die Nachbeben, die langsam abebben; ihre Hände noch immer gefesselt, die seinen halten sie fest an sich gedrückt. Als sie allmählich wieder aus ihrem Taumel erwachen, löst er behutsam ihre gebundenen Hände, gibt ihr ein Stück Freiheit zurück. Sanft fährt er mit den Fingerspitzen die roten Linien auf ihrem Körper nach. „Dieses Seil werde ich erst lösen, wenn wir wieder zu Hause sind. Zieh die weiße Bluse darüber, wenn wir ausgehen. Ich möchte, dass das Seil hindurchschimmert und ich deinen Anblick darin noch etwas genießen kann!“, flüstert er und gibt ihr einen innigen Kuss.

      Als sie schließlich hinaustreten in die dunkle Winternacht, hat der Schneeregen aufgehört. Klare, kalte Luft schlägt ihnen entgegen. Eng umschlungen laufen sie durch die Finsternis, doch diesmal fürchtet sie sich nicht, denn sie ist in seiner Nähe geborgen.


      ══════════ » ❅ « ══════════


      Wenn euch die Geschichte gefallen hat, dann freut sich die Autorin über eure Likes und Kommentare!
      Bitte liked jedoch nicht diesen Beitrag, da er nicht von der Autorin eingestellt wurde, sondern im Rahmen des Geschichtenadventskalenders.
      Die Autorin wird, sofern sie es möchte, zeitnah hier eine Antwort posten. Diese dann bitte liken, so dass eure Likes auch bei ihr ankommen.
      Sehr einfühlsam und mit schönen Worten erzählte Geschichte. Die Protagonistin wird für mich fühlbar. Das macht die Handlung so lebendig und anziehend. Ich konnte mich von der Stimmung mitnehmen lassen.
      Da ich den Boleró (insbesondere in der Orchesterfassung von Maurice Ravel) sehr schätze, habe ich beim Lesen die Steigerung der Energie im Verlaufe der Geschichte sehr schön gespürt.

      Vielen Dank für diese wunderbare Erzählung!
      Leider habe ich jetzt gerade keine Zeit. Aber wenn ich zurückkomme, suche ich mir den Bolero raus und dann wird die Geschichte nochmal,

      sozusagen mit musikalischer Unterstützung, gelesen.

      Ein weiß ich jetzt schon. ES WIRD EIN GENUSS! :yes:
      Die Frauen kosten uns achtzig Prozent unserer Kraft, aber ohne Sie hätten wir gar keine.


      Dieter Noll, "Kippenberg"
      @Intruder Als ich den Boléro vor vielen Jahren das erste Mal im Konzertsaal der Philharmonie Essen gehört habe, habe ich mich direkt in ihn verliebt. Und meine Liebe zu ihm ist gewachsen, seit ich das erste Mal zu ihm getanzt habe. :love:

      Ich wünsche dir- und allen anderen- also viel Freude beim Genießen! :)
      "Unsere Sehnsüchte sind unsere Möglichkeiten. "
      Robert Browning
      Welch schöner Schreibrhythmus!
      Es ist schön zu lesen, wie sich ihre Selbsterkenntniss langsam den Weg an die Oberfläche sucht, der Druck immer größer wird..., es dann wie eine Protuberanz ausbricht..., um dann im letzten Absatz in Harmonie auszuklingen.

      Zwar tanze ich eher auf den Bolero (oder eine neuzeitliche Interpretation davon)..., ihn aber beim Lesen im Hinterkopf zu haben ist auch ein schönes Erlebnis!
      Existence could not resist the temptation of creating me