10.12. ❅ Fassade

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      10.12. ❅ Fassade

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      ❅ 10. Dezember ❅

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      Fassade

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      von @NihilMorari





      „Das ist auch nicht so wirklich deine Party.“ Eine Feststellung, keine Frage. Trotzdem beantwortest du sie mit einem unbestimmten Schulterzucken. „Wie bist du denn auf die Idee gekommen?“, sagt die Stimme des Arschlochs in deinem Kopf und du tust gerade gut daran, die kalte Nachtluft gierig durch die Nase einzusaugen und an der Zigarette, die dir Jenny gerade gegeben hat – der ersten seit Jahren – zu ziehen und diese Worte nicht auszusprechen.

      Das Thermometer ist zum ersten Mal in diesem Jahr unter die Null-Grad-Grenze gerutscht und im Moment kannst du das gut gebrauchen. Bei der Zigarette hingegen geben sich die Enttäuschung nach dem ersten Zug und die diffuse Ahnung, dass du dich morgen auf einen soliden, hartnäckigen Kopfschmerz freuen darfst, die Klinke in die Hand. Jenny wirft dir einen mitfühlenden Blick zu und bläst eine halbe Lunge voll Rauch aus, der sich zusammen mit der warmen Atemluft in großen Wolken in den Raum zwischen euch legt.

      Du schließt kurz die Augen, nimmst eine Nase voll von der kalten Luft und lockerst dich. „Nein. Nicht so richtig. Ich mag Weihnachten nicht und den Rummel, der darum veranstaltet wird, den Kommerz und die vierundzwanzig Tage organisiertes Kampftrinken. Betriebsfeiern liebe ich vor allem wegen der Musik, der Drinks und der Ungezwungenheit mit den Menschen, mit denen du sowieso viel Zeit verbringst, zu feiern.“ Der Sarkasmus in deinen Worten klingt deutlich durch. Ein weiterer Zug an der Zigarette. „Nichts gegen dich oder die Mannschaft da drinnen.“ Ein Wink mit dem Kopf in die ungefähre Richtung der Wirtshaustür. „Und wie siehst du das? Auch scheinbar nicht so ganz deins.“

      Mit der Kippe im Mundwinkel formt ihr Mund ein verschmitztes Lächeln und ihre blauen Augen hinter der Brille blitzen einen Moment auf. „Fein erkannt! Du bist doch nicht so blind und taub, wie Lara sagt, dass du es bist.“ Du grinst ein wenig säuerlich. „Will sie immer noch was von mir?“ Jennys verschmitztes Grinsen wird breiter. „Höchstwahrscheinlich. So oft, wie sie auf dich schimpft.“ Du schüttelst dich. Zum einen, um das letzte Glas Rotwein in deinem System besser zu verteilen, zum zweiten, um der Vorstellung zu entkommen und zum dritten theatralisch, als sich die mitgegröhlten Partyschlager ihren Weg aus dem Inneren des Saufhauses ihren Weg nach draußen und auf deine Trommelfelle bahnen. „Was ist nur aus ,Nicht dahin kacken, wo man isst‘ geworden?“ Jenny lacht kurz und glockenhell, was dich kurz ansteckt.

      „Im Ernst, was soll ich mit ihr?“ Sie hebt ihren linken Handrücken an die Stirn und streicht sich mit einem betont leidenden Blick gen Himmel gespielt den Schweiß von der Stirn. „Es vergeht kein Arbeitstag, an dem ich mir nicht dieselbe Frage stelle.“ Jetzt lachst du aus vollem Herzen. „Ich kann ja schlecht auf sie zugehen und ihr vor den Kopf knallen, dass sie nicht mein Typ ist. Ob es was bringen würde, steht sowieso auf einem anderen Papier.“ Du nimmst den letzten Zug von der Zigarette und drückst den Rest in den Aschenbecher. „Mit ein bisschen Pech nimmt sie es als Ansporn.“ Du hast Lust auf einen weiteren Drink, um den Geschmack von Asche und Rauch wegzuspülen, aber schon bei dem Gedanken, wieder in die stickige, überheizte, enge, überlaufene und viel zu laute Umklammerung der Feier zurückzukehren, graut es dir für einen Moment. Die Kälte tut gut. Die Ruhe auch. Im Moment ist es einfach schön, nicht den üblichen Bürosmalltalk aka „Habt ihr das Spiel gesehen?“ oder „Was habt ihr am Wochenende gemacht?“ zu führen.

      „Was dagegen, noch ein bisschen hier draußen zu bleiben?“ Und die Zeit genießen, die du dich nicht nur einfach als Fremdkörper in der Gruppe fühlst, denkst du. Jenny grinst. „Ich wollte dich grade dasselbe fragen.“ Sie blickt demonstrativ auf ihr leeres Cocktailglas. „Aber ich befürchte, dass mein Drink kaputt ist.“ Das wiederum bringt dich zum Grinsen und dazu, den Schockierten zu spielen. „Meiner auch! Zufälle gibt’s.“ Ein kurzes Keckern auf beiden Seiten. „Dann also eine kurze Visite in der Werkstatt und wieder raus und ran“, schlägt sie vor und du gibst ein Nicken von dir, während sie den Rest ihrer Zigarette in den Aschenbecher drückt.

      Während du die Tür ins Innere der Kneipe öffnest, schallt dir Helene Fischer entgegen. Das motiviert dich zum theatralischen Zurückprallen, was du jedoch geschickt mit einer Tür aufhaltenden „die Dame zuerst“-Geste verbindest. Während du hinter Jenny in Richtung Tresen marschierst, vorbei an den Leuten, denen die Fete ganz gut schmeckt, fühlst du dich merkwürdig leicht. Ja, Jenny ist cool. Auf eine sehr lockere, punkige Weise. Du schätzt sie drei, vielleicht vier Jahre älter als dich selbst und könntest spontan nicht sagen, welchen Job sie erledigt – wer weiß das heutzutage in den gängigen Bürojobs schon? Nur, dass du ihr oft genug am Kopierer über die Füße läufst und ihr ein paar sehr angenehme, ungezwungene Unterhaltungen geführt habt. So lange bist du jetzt ja nun auch noch nicht Teil des Betriebes. Kurz vor der rettenden Zapfanlage kommt ihr an dem Doppeltisch vorbei, an dem die Kollegen gröhlend und lachend sitzen. Die Stimmung bei denen ist so ausgelassen, dass es dich abschreckt und Jannis aus der Lohnbuchhaltung, der in der Zwischenzeit wohl ein Paar Herrengedecke zuviel aufgesaugt hat, ist der Erste, der euer beider Rückkehr würdigt. „Hey, ihr habt euch aber Zeit gelassen! Was da wohl passiert ist…“ fängt er mit vielsagendem Blick in die Runde an und erntet durch Alkoholwirkung verstärkte Heiterkeit. Ein Teil von dir möchte es ignorieren und ein anderer sagt dir „Wenn wir uns sowieso schon alle im Rahmen der plausiblen Abstreitbarkeit bewegen, kannst du dem Nervbolzen auch verbal eine reinhauen“. Doch noch bevor du etwas sagen kannst, hat Jenny schneller geschaltet.

      „Die erste Runde war der Hammer und draußen geht die Kippe danach auch. Was Interessantes bei euch passiert?“, sagt sie direkt und knochentrocken. Jannis sieht für einen Augenblick so aus, als hätte ihn der Schlag getroffen und du musst dir auf die Zunge beißen, um nicht laut loszulachen. Aber das musst du auch gar nicht, denn die eine Hälfte des Tisches lacht für dich mit. Sauber abgebürstet, Chapeau. Jenny hat die Reaktion gar nicht erst abgewartet und sich zum Wirt umgedreht. „Noch ’nen trockenen Roten für dich?“, fragt sie in deine Richtung. Sie hat es sich gemerkt. „Yep!“, sagst du mit einem belustigten gutturalen Knarzen.

      Du spürst dich lächeln und locker werden. Zum ersten Mal an diesem Abend denkst du nicht mehr im Hinterkopf daran, welchen Song man der ganzen Bagage als Kontrastprogramm für Partyschlager um die Ohren hauen könnte (Dein Favorit bis jetzt ist „Weiss“ von der Band Japanische Kampfhörspiele. „Sklave“ von Kraftklub wäre auch eine Option, aber leider haben sich die wichtigen Personaler schon aus dem Staub gemacht). Du blickst in die Runde und dein Blick schneidet den von Lara. Angeheitert, wie sie ist und ein wenig weggetreten ist das wohl so nahe am Anhimmeln, wie es unter gegebenen Umständen möglich ist. Dir wird es von Sekunde zu Sekunde unangenehmer, da du wirklich nichts von ihr willst.

      Der Sadist in dir flüstert, dass man sowas ganz leicht heilen kann, indem man ihr eine härtere Session über ihre Grenzen angedeihen lässt. Die ist verknallt und würde alles mit sich machen lassen, so lange, wie sie schon zappelt. Es juckt dir einen Moment lang tatsächlich in den Fingern, genau das zu tun. Du schließt die Augen. Zu lange her, dass du das letzte Mal eine Session gehabt hast, das Jucken wirklich gekratzt und noch länger, dass du wirklich auf deine Kosten gekommen bist. Ein paar Gläser Wein lockern den aufgestauten Frust über diese Tatsache in dir und in einem Moment der Realisation du schämst dich dafür, dass er es in deine Gedanken geschafft hat. Es ist gut, dass du selbst begreifst, bevor dieser Impuls deine Handlungen lenkt, und du anfängst, dahin zu pissen, wo du trinkst. Bevor du selbst genau das Arschloch wirst, dass du niemals sein wolltest. Deine Überzeugungen schmeißt du nicht über Bord. Nicht für dieses Mädchen, nicht für Irgendjemanden.
      Du bekommst einen leichten Knuff in die Seite und umfasst wie automatisch das volle Glas Rotwein, welches sich auf der rechten Seite in dein Sichtfeld schiebt und während du es tust, berührt deine Hand kurz die kalten Fingerglieder und die kalte, helle Haut der Fingerglieder, die unter den violetten, flauschigen Stulpen hervorlugen. Die Berührung dauert vielleicht eine einzige Sekunde, aber sie fühlt sich gut an. Richtig. Irgendwie zärtlich und wohlwollend. „Danke“, sagst du und du weißt nicht, ob sie es hören kann, so sehr bist du noch davon vereinnahmt. „Lass uns rausgehen“, hörst du Jennys Stimme neben dir und du nickst, wirfst noch einen Blick in die Runde.

      „Weiter im Text. Ihr wisst, wo wir sind, wenn ihr meint, dass wir was verpassen“, sagt sie so laut, dass es alle Anwesenden hören können. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie etwas hinter Jannis‘ Gesichtsfassade zu bröseln anfängt, wie die Mehrheit der Betriebsfete es entweder einfach nur zu Kenntnis nimmt oder zu tief in der Unterhaltung steckt. Du brauchst Lara nicht einmal anzusehen, um zu wissen, dass sie euch früher oder später nach draußen folgen wird, weil sie ihre Chance wittert.

      Einen Augenblick, eine offene Tür und ein paar Schritte später kommt ihr beide bei dem überdachten Raucherbereich an. Durchatmen. Die Kälte tut gut. Der Mangel an Überreizung noch besser. Jenny lächelt schelmisch und nimmt eine weitere Zigarette zwischen die Lippen. „Wenn man einmal was trinkt, kommt die Sucht wieder durch. Auch eine?“ Du schnaufst und grinst. „Gleich. Ich hab ja eigentlich schon lange aufgehört. Ich muss langsam wieder anfangen, dann klappt’s auch bei mir mit der Sucht.“ Wieder ein glockenhelles Lachen von ihrer Seite.

      Mit einem Mal betrachtest du sie, als wäre sie nicht das neutrale Säugetier, mit dem du dir wochentags zwischen Acht und Vier ein Gehege teilst, sondern nimmst dir eingehend Zeit, sie zu mustern. Sie ist deutlich kleiner als du und zierlich. Nicht ganz so, dass es klappert, aber zierlich. Ihr Haar ist schwarz, ihr Gesicht sehr fein geschnitten und die blauen Augen wach. Sie hat einen Sinn für Ästhetik, der dir gefällt und erweckt den Eindruck aus der Art, wie sie sich bewegt und gibt, sich wohl in ihrem Körper zu fühlen. Mehr noch – wie du es so gerne sagst – in Kontakt mit ihrem inneren Porno zu stehen, wenn du ein bisschen genauer schaust. Geist ist geil. Plötzlich wird dir klar, dass sie genau deinem Beuteschema entspricht. Wow. Ganz schön viel auf einmal für deinen Kopf. Du nimmst einen Schluck von deinem Rotwein und lässt ihn im Mund kreisen – gar nicht schlecht, nicht unbedingt die Spitze und nach einigen Gläsern und der Zigarette vorhin kannst du deinem Geschmackssinn auch nur bedingt trauen.

      „Was war eigentlich eben mit Jannis los?“ Du hörst dich selbst die Frage stellen. Nicht ganz elegant, aber auch besser, um das Gespräch wieder ins Rollen zu bringen. Jennys Gesichtsdruck wird leicht säuerlich.

      „Der versucht seit zwei Jahren, sich an mich ranzumachen und das Nein ist bei ihm noch nicht ganz angekommen. Entschuldige bitte, dass ich eben diesen Witz gemacht habe, aber das war eine Steilvorlage von ihm und vielleicht kommt die Nachricht dieses Mal an. Ich meine, auch du hast da keine zukünftige Ehefrau verloren. Menschen reden sowieso.“ Das ergibt Sinn. „Dafür brauchst du dich nicht entschuldigen, ich war zwar ein bisschen überrumpelt, aber ich fand das sehr souverän. Du bist direkt und ich mag das.“

      Sie lächelt dich auf eine sehr warme, einladende Art an, zieht an der Kippe, legt den Kopf schief und betrachtet dich genauer, während sie an ihrem Glas nippt. „Welcher Whisky ist das?“, fragst du, während du ihr einen Schritt näher kommst, nahe genug, um das Phenolaroma zu riechen, welches die bernsteinfarbene Flüssigkeit verströmt, von welcher ein Daumen breit in dem Tumbler in ihrer Hand kreist und du kennst die Antwort. „Laphroaig.“ Du spürst dich selbst strahlend lächeln. „Willst du mich heiraten?“, fragst du überzogen und doch nicht ganz unehrlich. Sie lacht und das steckt dich an.

      „So plötzlich? Heute Abend ist jedenfalls nicht mehr drin.“ Ihr lacht weiter, was einen Teil der Anspannung löst und nach einem Moment des Luftholens schenkt sie dir ein weiteres Lächeln. „Da muss ich dich aber erst noch ein bisschen kennenlernen, mein Sonnenschein.“ „Meinen Lieblingswhiskey kennst du jetzt schon, was willst du wissen?“

      „Hmmmm“, sagt sie und zieht an der Zigarette. „So richtig werde ich nicht schlau aus dir und da wir eben schon geklärt haben, was oder wen du nicht willst, stelle ich mir die Frage, was genau du willst.“

      Du schweigst einen Moment, überlegst. Da bist du genau in die Zwickmühle hineingelaufen. Ein Teil von dir will ihr deine Neigungen nahelegen und der andere Teil ist ein großes LED-Schild, auf dem in sieben grellen Farben die Worte stehen „Das kann gefährlich werden. MAUL HALTEN!“. Außerdem, was wenn es sie total abschreckt? Wie oft läufst du in deinem Leben jemandem über den Weg, der dich wirklich interessiert? Auf der anderen Seite war Jenny ehrlich mit dir. Sie vertraut dir zumindest soweit und ja, du hast sie auch gerne. Wirklich. Keine Diskussion mehr.

      Du willst zu einer Antwort ansetzen, als die Tür sich öffnet und Lara ins Freie tritt, Umdrehungen im Gang, Promille im Blick. „Oh scheiße“, entfährt es dir halblaut und für sie reicht das als Peilsignal, um den Weg zum Raucherpavillon zu finden. „Da seid ihr zwei ja.“ Lara stapft etwas ungelenk zu euch beiden heran, während du mit einem leicht panischen Blick zu Jenny und dem halben Mund sagst: „Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt für die Kippe.“ Sie schenkt dir einen mitleidigen Blick, reicht dir Packung und Feuerzeug und mit Glück und Muskelgedächtnis kommst du in den Sekunden, die dir bleiben, ehe sich Lara dir an die Brust schmeißt, noch dazu, dir einen der Sargnägel anzustecken und beides wieder zurück zu geben.

      „Alles, damit sie nicht auf die Idee kommt, dich auch noch zu küssen“, denkst du dir. Die Wucht ihrer Umarmung lässt dich das Weinglas fester fassen und überrumpelt dich. Mehr zu deiner Brust als zu deinem Gesicht lässt sie einen Schwall Worte los, aus denen du „Ich will dich“, „Du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben“ und „bitte lass uns zusammen sein“ heraushörst. Du bleibst stocksteif, bis sie innehält, um dich anzusehen.

      Einen Sekundenbruchteil lang fühlst du dich hilflos. Genau das ist der nötige Stupser, der dich aus deiner Rolle fallen lässt. „Lass mich los!“, sagst du eiskalt und tonlos, nicht laut, aber bestimmt. Sie zuckt zusammen und tut das, den Blick weiter auf dich geheftet. Sie zittert. Ob es die die kalte Luft ist oder die Kälte in deinen Worten, weiß nur sie selbst. Du ziehst an der Kippe und schnippst die Asche ab. Das Kratzen des Nikotins facht etwas Brennendes in dir an. Etwas, das du vermieden hast. Das kleine Körnchen Sadismus, das du zulassen darfst, meldet sich. „Zum Mitschreiben:“, du bläst den Rauch aus, „Du bist nicht mein Typ.“ Angst und Schmerz in ihrem Blick. „Ich will nichts von dir.“ Sie zuckt, als hättest du sie geschlagen. Eigentlich ist das hier schon deutlich, aber du kannst nicht aufhören. „Nicht heute. Nicht irgendwann.“ Du sagst etwas Notwendiges, aber das hier hat den Damm vor deinem Sadismus brechen lassen. Du weißt, dass der Mensch grade rauskommt, der du nicht sein willst. „Tu dir selbst einen Gefallen und such dir jemand anderen.“ Und weil es scheißegal ist und du das Messer schon hineingerammt hast, fällt es auch gar nicht mehr auf, wenn du die Klinge umdrehst. „Ich sage es dir genau einmal und wenn ich das wiederholen muss, dann werde ich das beim Personalchef tun. Und jetzt geh!“

      Knack. Du kannst dabei zusehen, wie Laras Hoffnung und Selbstwertgefühl zusammenkrachen und sich die Realisation langsam ihren Weg durch den Schutzwall aus Glühwein, Hugo und den vielfarbigen Schnäpsen bohrt. Du siehst ihr Gesicht zucken, hörst sie schwer atmen, siehst die Tränen sich in ihren Augen sammeln und drehst dich weg. Du meinst einen Schluchzer, der wie „Arschloch“ klingt, zu hören und ziehst an der Zigarette.

      Für einen Teil von dir fühlt es sich verdammt geil an. Starkes Körpergefühl. Du hörst, wie das Schluchzen leiser wird, schnell und Lara wieder nach drinnen läuft. Die Tür öffnet und schließt sich und dein Blick fällt wieder auf Jenny. Überrumpelt trifft es ganz gut, was jetzt in ihrem Gesicht steht. Du bläst den Rauch aus und greifst das Weinglas fester. Was zum Teufel sagt man jetzt? Wie knüpft man wieder an das Thema davor an? Hast du das Richtige gemacht?

      „Ohje. Das wird wunderbaren Tratsch inspirieren. Entschuldige, dass du das mit ansehen musstest.“ Du blickst weg, nach oben in Richtung der angestrahlten, wattigen Wolkenfetzen, zwischen denen der Sichelmond zu sehen ist. „So kenne ich dich gar nicht. Sonst bist du eher scheu und still“, sagt sie, einen ernsten Unterton in der Stimme. „Sie hat eine Grenze überschritten. Kennst du das nicht von Typen, die dir zu sehr auf die Pelle rücken?“, sagst du mit einem etwas resignierten Kratzen in der Stimme. Sie blickt dich an. „Du hast Recht. Es war echt happig, aber ehrlich.“ Dein Blick trifft ihren. „Es hat mir Spaß gemacht.“

      Du lässt den Satz einen unvernünftig tiefen Zug an der Zigarette lang im Raum stehen. „Du wolltest wissen, was ich will. Ich stehe auf SM. Wenn du es genau wissen willst, bin ich dominant und sadistisch. Ich suche eine Frau, die nicht nur damit umgehen kann, sondern genau darauf steht.“

      Der letzte Zug von der Zigarette, bevor du sie in den Aschenbecher drückst, ohne den Blickkontakt zu brechen. Die Angst vor der Ablehnung, davor, dass du es dir grade mit so ziemlich jedem Menschen auf deiner Arbeit verscherzt hast und mehr noch, dass du Jenny so sehr schockiert hast, dass sie nichts mehr mit dir zu tun haben will, drehen grade in deinem durch die Drinks sowieso schwimmenden Kopf durch.
      Aber sie hält deinem Blick stand. Sie ist nicht schockiert. Sie blickt nicht weg. Da ist etwas, das du nicht definieren kannst in ihrem Blick, ehe sie sich kurz abwendet. „Verdammt, warum müssen wir uns hier kennenlernen?“, fragt sie niemanden Bestimmtes, halb bedauernd, halb verschmitzt. In einer eleganten Bewegung schnippt sie die Kippe weg, nimmt einen Schluck aus dem Tumbler in ihrer rechten Hand und setzt ihn zu ihren Füßen ab.

      Sie braucht zwei Schritte zu dir, fasst dich bestimmt an deinem Mantel und zieht dein Gesicht zu ihrem hinunter und ehe du einen klaren Gedanken fassen kannst, finden ihre Lippen deine. Für einen Moment kommt es dir vor, als hätte jemand ein klaffendes Loch in die graue Tapete deiner Realität gerissen. Du spürst ihr Verlangen und ihre Bestimmtheit, spürst, wie du selbst ihren Kuss erwiderst, spürst deinen Hunger, durch den ihrigen gespiegelt und ergänzt, und einen Moment lang fühlt es sich an, als würden sich zwei ausgehungerte Wölfe in diesem Moment gegenseitig verschlingen wollen. Und als du denkst, dass ihr euch nicht mehr intensiver hineinsteigern und fallenlassen könnt, fühlst du sie nachgeben, fühlst, wie sie zärtlich wird, Wachs in deiner Hand, einladend. Es ist, als ob du in dem Moment, in dem du den ersten Schluck Wasser nimmst, feststellst, wie durstig du wirklich bist.

      Genauso unvermittelt ist es vorbei und du stolperst in die Wirklichkeit zurück. Jenny hat den Moment genutzt, um sich den Tumbler wiederzuholen und blickt dich mit etwas Distanz an. Verschmitzt, verspielt, mit einem Echo des Hungers, den ihr eben empfunden habt und einer vagen Versprechung von mehr in ihrem Blick. „Gehen wir rein. Die anderen könnten noch auf dumme Gedanken kommen.“ Du siehst dir selbst beim Nicken zu. „Du hast Recht“, sagst du und kannst nicht anders als ein überwältigtes „Wow“ hinterher zu setzen. Sie geht in Richtung Tür. „Keine Angst, dass ist nicht alles. Aber alles, was wir hier tun sollten. Zu viel auf einmal, weißt du.“ Über ihre Schulter wirft sie dir einen Blick zu, in dem sich Wärme, die Enttäuschung eines kleinen Mädchens, dem man das Weihnachtsgeschenk weggenommen hat und die Vorfreude, ebendies zurückzubekommen mischen. Du nickst. Noch leicht betäubt und ungläubig, halb noch in der anderen Dimension, in die und aus der ihr eben gestürzt seid. Und doch selig. „Ich verstehe.“

      Sie geht und du blickst ihr hinterher. Du brauchst einen Moment, um dich zu sammeln. Auf dem Weg zurück zur Tür landen die ersten Schneeflocken dieses Winters auf deiner Nase und bringen dich zum Lächeln, während du dich wieder ins überheizte, glühweinselige Getümmel stürzt.


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      Erst einmal Tausend Dank fürs Lesen und für euer Feedback! Ich habe über die Feiertage (und davor auch) gemerkt, dass ich weder mit dieser Geschichte, noch mit den Charakteren fertig bin, also habe ich unter "Maledom FSK18" einen Thread eröffnet. Zusätzlich zu dem bereits veröffentlichten zweiten Kapitel, werde ich ein Drittes in den nächsten Tagen dort veröffentlichen, so denn von eurer Seite Interesse daran besteht.
      "Manchmal ist etwas nicht präsent, weil es grade verschwunden ist und manchmal, weil es auf den richtigen Moment zur Wiederkehr wartet. So ist es in der Musik und so ist es im Leben." - Richard Morgan, Dizzy Czango in den Mund geschrieben