18.12. ✵ Hochzeitsnacht mit Hindernissen

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      18.12. ✵ Hochzeitsnacht mit Hindernissen

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      ✵ 18. Dezember ✵

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      Hochzeitsnacht mit Hindernissen

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      von @Lemming

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      Zu dieser Geschichte gibt es weitere Teile:
      Teil 1: Adventskalender
      Teil 2: Kling Glöckchen
      Teil 3: Noch sechs Tage

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      Annabelle hatte sich zu mir gesetzt, mir ihre Hand auf den Arm gelegt und mich mit einem Blick angelächelt, der wie der einer Verliebten auf mich wirkte. Ansonsten war der große, runde, festlich dekorierte Tisch, an dem ich schon eine ganze Weile in Gedanken versunken saß, verwaist. Die Band spielte nur noch leise Töne und auf der Tanzfläche bewegte sich kaum merklich ein eng umschlungenes letztes Paar, das nur noch mit sich selbst beschäftigt war und die Welt um sich herum zu vergessen schien. Wer sie waren, wusste ich nicht, aber das ging mir bei vielen der Gäste so. Und trotzdem hatte mir ein jeder von ihnen das Gefühl gegeben, an diesem Tag der Mittelpunkt ihrer und dieser Welt zu sein, die sich nun langsam auflöste. Nur Annabelle war noch da. Ich sah sie an und in mir breitete sich wieder dieses Gefühl aus, das mich immer befällt, wenn sie in meiner Nähe ist.

      Wer hätte gedacht, dass ich sie noch mal wiedersehen würde. Lisa hatte sie aufgespürt. Sie hatte ihre Tochter in den sozialen Medien gefunden und sich dann mit Annabelle hinter meinem Rücken angefreundet. Und auf meinem letzten Geburtstag war Annabelle dann der Überraschungsgast für mich. Hätte ich nicht schon in meinem Stuhl gesessen, als sie hereinkam, hätte es mich glatt von den Beinen gehauen. Wir hatten uns über dreißig Jahre nicht gesehen. Aber ich erkannte sie sofort. Und dann sah ich zu Lisa. Sie lächelte, als unsere Blicke sich trafen. Erst dann traute ich mich wieder, Annabelle anzusehen, die natürlich älter geworden war, sich in ihren Grundzügen aber kaum verändert hatte.

      Und wer hätte gedacht, dass ich noch mal heiraten würde, nach dem Fiasko beim ersten Mal. Ohne Annabelle wäre diese Hochzeit nicht mal halb so schön geworden und wahrscheinlich hätte es eine Feier in dieser Art gar nicht gegeben. Annabelle hatte das Projekt Hochzeit vom ersten Moment an an sich gezogen und alle Fäden in die Hand genommen. Sie erstellte die Gästeliste, suchte die Location aus, sorgte für Musik und Tanz und schaffte jedes Problem aus dem Weg, das mich zur Verzweiflung getrieben hätte. Sie war unglaublich und voller Energie. Und sie war glücklich und ging in den Vorbereitungen für eine fast filmreife Hochzeitsfeier auf, die sich nun dem Ende neigte.

      „Bist du glücklich?“, fragte sie.
      „Ja. Ich glaube ich war nie glücklicher in meinem Leben.“

      Annabelle lächelte und streichelte meinen Arm.
      „Das ist schön“, sagte sie, und ließ ihren Blick durch den leeren Saal wandern. „Sie sind alle gegangen, fast wie auf Kommando.“

      Ich seufzte. „Auch der schönste Tag muss einmal zu Ende gehen, Annabelle. Ich glaube, du hast mir heute den schönsten Tag meines Lebens bereitet. Das hätte ich so niemals für möglich gehalten.“ Annabelles Mundwinkel gingen noch weiter auseinander und ihre Augen begannen zu strahlen.
      „Ich freue mich so, weil…“ Annabelle stockte und eine Träne lief ihre Wange hinunter, während sie nichts von ihrem Lächeln einbüßte. Dann senkten wir beide unseren Blick, als wenn es uns verlegen machte.

      Annabelle war ein ganz besonderer Mensch. Sie wieder in meinem Leben zu haben, war das größte Geschenk, das man mir machen konnte. Sie war Seelenverwandte, Freundin, Geliebte in einem früheren Leben und alles, was man zum Leben wie die Luft zum Atmen braucht. Mit ihr hat man jemanden, auf den man sich verlassen kann, wenn man es am nötigsten hat. Sie war wieder da, schon vor Jahren zurückgekehrt, als eine Beziehung zu Ende ging und sie das Heimweh befiel. Und nun auch wieder in meinem Leben angekommen, seit sie mich völlig unerwartet an meinem Geburtstag besuchte.

      Plötzlich schreckte ich aus meinen Gedanken. „Wo ist Lisa?“

      Annabelle schaute sich um. Aber in dem großen Saal war kaum noch jemand.
      „Ich habe sie vorhin vor den Toiletten gesehen“, sagte Annabelle. „Aber das ist schon fast eine halbe Stunde her.“
      „Kannst du mal nachsehen, ob sie auf der Toilette ist? Vielleicht geht es ihr nicht gut. Sie hat in den letzten Tagen öfter mal über Übelkeit geklagt. Ich glaube sie war ziemlich aufgeregt.“ Annabelle stand sofort auf und ich folgte ihr.

      „Nein. Da drin ist sie nicht.“
      „Wo kann sie denn sein? Ihre Verwandten sind doch auch schon alle weg.“
      „Ich frage mal vorne in der Gaststätte nach“, sagte Annabelle und verschwand schnellen Schrittes. Währenddessen ging ich die Stufen hinunter, die zu den Kegelbahnen führten, aber da war nicht mal das Licht eingeschaltet.

      Annabelle und ich trafen uns wieder im Saal, an unserem Tisch, als es in ihrer Tasche summte, die nicht viel größer war als ein Briefumschlag und die sie gerade erst auf dem Tisch abgelegt hatte. Sie zog das Smartphone heraus und nahm einen Anruf entgegen.

      „Erwin? … Was? … Nein… Spinnst du?“ Annabelle sah besorgt aus und klang auch so. Dann sah sie mich entgeistert an und hielt mir ihr Handy entgegen. Ich zögerte einen Moment, nahm es aber dann in die Hand.
      „Hallo?“, meldete ich mich.
      „Pass gut auf“, hörte ich die Stimme mit dem osteuropäischen Akzent. „Ich habe deine Kleine. Wenn du sie wiedersehen willst, tust du genau, was ich dir sage. Und keine Polizei.“
      „Polizei? Wieso Polizei?“
      „Das ist kein Spiel. Du Depp.“ Wie kam der dazu mich Depp zu nennen. Ich hatte diesen Erwin erst ein paar Mal gesehen. Er war Annabelles Begleitung. Ich wusste nicht mal, ob er nur ein flüchtiger Bekannter war oder ob sie richtig zusammen waren. Annabelle hielt sich, was das anging, ein bisschen bedeckt.

      „Gib mir Anna“, riss Erwin mich aus meiner Schockstarre, doch ich war zu keinerlei Handlung fähig. Annabelle, die das Gespräch aus meinen Reaktionen heraus irgendwie rekonstruieren konnte, löste die Umklammerung, mit der ich das Handy festhielt, nahm es mir ab und drehte sich von mir weg. Ich hob nur meine geöffnete Hand, als wenn ich nach Annabelle greifen und sie festhalten wollte, bewegte mich aber keinen Schritt hinter ihr her.

      „Wir sollen zu euch in die Wohnung fahren.“ Annabelle hatte ihr Smartphone wieder in die Tasche gesteckt und nahm mich am Arm. Sie führte mich auf den unbeleuchteten Parkplatz hinter dem Lokal zu meinem Auto. Als ich einsteigen wollte, legte sie ihre Hand auf die Fahrertür und nahm mir den Schlüssel ab, mit dem ich gerade noch die Türen entriegelt hatte.
      „Ich fahre. Du hast schon zu viel getrunken und bist viel zu aufgeregt.“ Aufgeregt war ich nur im Innern, äußerlich war ich in eine Art Lethargie verfallen, die sich nur langsam auflöste. Trotzdem hatte ich es irgendwie auf den Beifahrersitz geschafft. In der Zeit war Annabelle allerdings schon angeschnallt und hatte den Motor aufheulen lassen.

      „Was passiert hier nur?“, fragte ich, als Annabelle den Wagen auf die Hauptstraße lenkte.
      „Ganz ruhig, es wird alles gut“, versuchte sie mich zu beruhigen.
      „Alles gut?“ Ganz langsam begann mein Gehirn damit, seinen verlassenen Arbeitsplatz wieder zu besetzen. „Das habt ihr doch zusammen geplant. Lös diesen Scheiß auf, wir sind doch keine Kinder mehr.“ Irgendwie versuchte ich mir ein Feindbild zu erschaffen, gegen das ich ankämpfen konnte, um die Situation wieder in den Griff zu kriegen.
      „Stephan, glaub mir, ich habe damit nichts zu tun und bin genauso überrascht wie du.“
      „Wie lange kennst du diesen Erwin eigentlich?“
      „Lange genug, um zu wissen, dass er es ernst meint. Leider. Ich habe…“, Annabelle stockte. „Nein, das willst du nicht wissen.“
      „Was?“
      „Vergiss es.“
      Annabelle gab Gas, sie fuhr sogar über eine rote Ampel. Wir waren allein auf der Straße und die Kreuzung war gut einzusehen, aber trotzdem… Sie war angespannt und ich war spätestens dadurch auch wieder hellwach. War sie Freund oder Feind? Plötzlich wusste ich es nicht mehr. Ich beobachtete sie dabei, wie sie den Wagen steuerte, mit ihren hellen Autofahrerhandschuhen. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie sie sie angezogen hatte. Annabelle hatte selbst jetzt noch Stil, in dieser komischen Situation. In einem Film hätte sie gut die Gangsterbraut geben können. Vielleicht war sie es ja auch jetzt, im wahren Leben. Schließlich hatte ich sie über 30 Jahre nicht gesehen. Wer weiß, mit wem sie sich in dieser Zeit eingelassen hatte.

      Annabelle parkte vor dem Haus, das in fast allen Zimmern hell erleuchtet war. Ich stürmte hinein und rannte die Treppe hinauf, nachdem ich unten in Wohnzimmer und Küche niemanden fand. Im Schlafzimmer lag Lisas Brautkleid auf dem Bett. Schränke und Schubladen waren durchwühlt und überall lagen Kleidungsstücke auf dem Boden.
      „Was hat das alles zu bedeuten?“, rief ich, als Annabelle nach einer gefühlten Ewigkeit das Zimmer betrat.
      „Ich weiß es nicht“, sagte sie, während sie sich bückte, um einige der herumliegenden Sachen aufzuheben.
      „Willst du jetzt etwa aufräumen?“, fauchte ich und stürmte aus dem Zimmer. Sie folgte mir und holte mich erst im Wohnzimmer wieder ein, in dem ich wie ein Tiger im Käfig hin und her lief.

      Annabelle hielt noch immer Lisas Wäschestücke in der Hand, die sie im Schlafzimmer aufgesammelt hatte. Ich lief zu ihr, fasste sie an den Schultern und schüttelte sie. „Was ist bloß los mit deinem Typ!“, schrie ich sie hysterisch an, als es plötzlich wieder in ihrer Tasche summte, die sie sich unter den Arm geklemmt hatte. Dabei fiel ihr alles zu Boden, die Wäschestücke und die Tasche. Ich wartete nicht, bis Annabelle sich wieder gefasst hatte, sondern nahm die Tasche vom Boden auf, öffnete sie und drückte Annabelle das Smartphone in die Hand. Sie sah aufs Display und schloss die Augen, während sie sich auf die Unterlippe biss. Sie musste etwas gesehen haben, das sie nicht sehen wollte. Ohne die Augen zu öffnen, hielt sie es mir entgegen und ich erstarrte erneut.

      Ich sah Lisa. Sie saß auf dem Bett in unserem Schlafzimmer. Das Brautkleid lag bereits hinter ihr und sie trug ihren hellblauen luftigen Sommermantel. Der Mantel war unter dem Gürtel geöffnet und gab einen Blick auf ihr übergeschlagenes Bein frei, das in einem weißen Strumpf steckte. Doch sehr viel mehr beunruhigte mich, dass sie mit einem ihrer Tücher geknebelt war, ich ihre Hände nicht sehen konnte und somit den Eindruck gewann, dass sie hinter ihrem Rücken gefesselt waren. Und um den Hals trug sie ein großes Pappschild, auf dem mit der Hand eine lange Nummer geschrieben war, auf die ich mir keinen Reim machen konnte.

      „Was soll das?“
      „Stephan, ich weiß es nicht. Ich merke, dass du mir irgendwie die Schuld gibst, für das was hier gerade passiert, aber ich habe wirklich keine Ahnung.“

      Wieder summte das Smartphone, das Annabelle noch in ihrer Hand hielt.
      „Ja“, meldete sie sich und klang dabei zögerlich. „Okay.“ Annabelle hielt mir das Handy entgegen. „Er will mit dir sprechen.“ Ich nahm es ihr ab und hielt es mir ans Ohr, ohne mich zu melden. Stattdessen studierte ich Annabelle und versuchte aus ihren Reaktionen irgendwas herauszulesen. Sie wirkte nervös, konnte den Augenkontakt nicht halten und wand sich ab. Ich glaubte ihr nicht mehr, dass sie ahnungslos war, wusste aber auch nicht, was sie für eine Rolle spielte.

      „Hörst du mich?“ Erwin wurde ungeduldig, nachdem ich mich nicht meldete.
      „Ja“, antwortete ich knapp, obwohl ich eine Schimpftirade auf den Lippen hatte, die ich gerne losgeworden wäre. Doch ich wollte den Kopf nicht verlieren. Irgendwas in mir veranlasste mich, vernünftig zu werden, was immer das auch bedeuten mochte.
      „Lisa ist bei mir. Es geht ihr gut. Du kriegst sie zurück, nachdem du 10.000 Euro überwiesen hast. Die Bankverbindung steht auf dem Schild um ihren Hals. Anna wird dich dabei filmen und mich zusehen lassen. Dann kriegt ihr die Koordinaten, die dich zu Lisa führen.“

      Erwin beendete das Gespräch, bevor ich reagieren konnte.
      „Er will 10.000 Euro.“ Fassungslos starrte ich zu Annabelle, die am Fenster stand und hinaus in die kalte Dezembernacht sah. Ich dachte an Lisa, die hoffentlich nicht mehr nur mit dem dünnen Sommermantel bekleidet war, und daran, dass sie so schnell fror.
      „Scheiße“, sagte Annabelle. „Kann sein, dass er wieder Spielschulden hat.“ Sie seufzte.
      „Das kann doch nicht wahr sein. Machst du dir jetzt Sorgen um ihn?“ Wut stieg in mir auf. „Was sind das nur für kriminelle Typen, mit denen du dich abgibst!“
      „Hey!“ Annabelle schnauzte zurück, was ich so gar nicht kannte von ihr. „Erwin ist ein Guter. Nur manchmal da…“ Sie beendete den Satz wieder nicht. „Lass uns machen, was er dir gesagt hat, dann hat der Spuk schnell ein Ende. Und ich werde alles tun, damit du dein Geld bald wieder zurückkriegst.“

      Wir gingen ins Arbeitszimmer und ich schaltete meinen PC ein.
      „Woher weiß er eigentlich, dass ich mal eben mir nichts, dir nichts über 10.000 Euro verfügen kann?“, fragte ich, bevor der Rechner hochgefahren war.
      „Vielleicht solltest du dich hier mal umsehen und darüber nachdenken, wie du lebst. Dann kommst du vielleicht selbst auf eine Antwort.“ Ich drehte meinen Kopf zu Annabelle und wir funkelten uns an. Wir standen nebeneinander, direkt vor meinem Schreibtisch. Plötzlich legte Annabelle ihre Hand auf meine, mit der ich gerade den Mauszeiger über den Bildschirm bewegte.
      „Hey, lass uns das jetzt durchziehen, ohne uns zu zerfleischen, später klärt sich bestimmt alles auf.“

      Als wir im Auto saßen, wussten wir noch immer nicht, wo es hingehen sollte. Annabelle hielt ihr Smartphone in der Hand, aber es passierte nichts. Es war bald 10 Minuten her, seit ich die Überweisung getätigt hatte. Erwin hatte dabei zusehen können, aber er reagierte nicht. Jede Minute, die verstrich, kam mir wie eine Stunde vor.
      „Ruf ihn an.“
      „Nein. Du kennst ihn nicht. Wenn du ihn drängen willst, stellt er sich quer. Und wenn du Pech hast, siehst du Lisa heute gar nicht mehr.“
      „Es ist ein Scheißgefühl, mir Lisa mit ihm allein vorzustellen.“
      „Du musst keine Angst haben, er wird ihr nichts tun.“
      „Bist du dir sicher?“
      Annabelle wand ihren Blick von mir ab und verbarg ihr Gesicht. In dem Moment kam endlich das erlösende Signal.

      „Es ist ein Bildschirmfoto einer Karte mit einer markierten Stelle.“ Annabelle hielt mir das Foto entgegen, aber ich konnte nicht wirklich was erkennen, weil sie damit herumfuchtelte, während sie gleichzeitig den Motor startete. „Ich weiß, wo das ist.“
      „Na was für ein Zufall.“ Ich klang sicher angefressen, was ich auch war. Ich hatte das Spiel, das hier gespielt wurde, noch nicht durchschaut, aber ich würde schon noch dahinterkommen, welche Rolle Annabelle darin einnahm. Und ich hoffte für sie, dass es nicht so war, wie ich befürchtete.
      „Nein, kein Zufall. Es ist eine Blockhütte am Waldrand, in der ich mit Erwin schon einige Nächte verbracht habe.“ Annabelle grinste plötzlich, doch dieses Grinsen passte überhaupt nicht zur Situation und zu dem, was ich gerade durchmachte. Es schien, als wenn sie mich mit übertriebener Euphorie beschwichtigen wollte.

      Wir fuhren aus der Stadt heraus, die hügelige Landschaft hinauf. Hier lag bereits Schnee. Während es in der Stadt in den vergangenen Tagen noch geregnet hatte, hatte es in den höheren Lagen geschneit. Je höher wir fuhren, desto dicker wurde die Schneedecke. Anfangs lag der Schnee nur an den Rändern, doch schon bald waren die engen, kurvigen Straßen komplett vom weißen Puderzucker bedeckt. Eine märchenhafte Winterlandschaft tat sich auf, für die ich aber kein Auge hatte. In der Ferne glitzerten die Lichter der Großstadt, die wir immer weiter hinter uns ließen. Manchmal sah ich sie noch kurz nach einem Richtungswechsel, bevor sie dann wieder hinter Bäumen oder Kurven verschwanden.
      Annabelle fuhr konzentriert und passte das Tempo den schwieriger werdenden Straßenverhältnissen an.
      „Wie lange brauchen wir denn noch?“ Wir hatten geschwiegen, seit wir die Stadt verlassen hatten. Das war vielleicht eine halbe Stunde her. Ich erschrak mich selbst über das Krächzen, das aus meinem Hals kam.
      „Wir sind fast da“, sagte Annabelle. „Es ist gleich hinter der nächsten Kurve. Vielleicht ein paar hundert Meter noch.“

      Der Schnee knirschte unter den Rädern, als Annabelle den Wagen langsam ausrollen ließ und vor einer imposanten Blockhütte abstellte. Hier oben gab es mehrere solcher Hütten, aber sie standen nicht sehr dicht beieinander. Jede war von einem größeren Grundstück umgeben und bot ausreichend Parkraum für mindestens sechs Autos vor dem Haus. Neben unserem stand Annabelles Wagen, mit dem sie am Morgen zu meiner Hochzeit gekommen war. Es kam mir vor, als war das eine Ewigkeit her. Dieser Erwin war also hier und mit ihm wohl auch Lisa.

      Als ich die Beifahrertür aufreißen wollte, spürte ich Annabelles Handschuh auf meinem Handrücken. Sie hielt mich fest und ich drehte mich fragend zu ihr um.
      „Reg dich bitte nicht auf, Stephan. Lisa ist hier und es wird alles gut. Vertrau mir.“ Ich atmete tief durch. Dann öffnete ich die Tür und lief die drei Holzstufen zur Hütte hinauf. Annabelle kam mir nach.
      „Warte, ich habe einen Schlüssel“, rief sie.
      „Wieso ist denn hier abgeschlossen?“
      „Frag nicht“, antwortete Annabelle und schob mich beiseite. Ich war ungeduldig und drängte mich an ihr vorbei, sobald Annabelle die Tür aufgeschlossen hatte. Doch sie versetzte mir einen Stoß, der mich ins Stolpern brachte. Das brachte ihr genug Zeit, die Tür wieder ins Schloss zu ziehen und erneut abzuschließen. Nun war ich in der Hütte und Annabelle stand draußen vor der Tür.

      Ich sprang gegen die Tür und hämmerte mit meinen Fäusten dagegen.
      „Mach die verdammte Tür wieder auf“, schrie ich.
      „Einen Scheiß werde ich tun“, rief Annabelle, und ich war überrascht von ihrer Ausdrucksweise.
      „Stephan?“
      „Was?“
      „Genieße deine Hochzeitsnacht. Wir sehen uns morgen… oder übermorgen, mal sehen.“

      „Lisa“, schoss es mir durch den Kopf. Sie musste doch hier sein. Das Zimmer war nur schwach beleuchtet. Die Fensterläden waren geschlossen. Auch wenn es Nacht war, es war sternenklar. Der Mond und der reflektierende Schnee hätten das Zimmer stärker erleuchten können. Aber es drang nichts herein und ich konnte nicht hinaussehen, um zu sehen, was Annabelle machte.

      In der gegenüberliegenden Wand gab es eine Tür, die einen Spaltbreit geöffnet war. Aus dem drang das wenige Licht, an das meine Augen sich langsam gewöhnten. Aus der Richtung kamen Geräusche. Wieder eine Tür, die ins Schloss gezogen wurde, und wieder ein Schlüssel, mit dem sie verschlossen wurde. Zielstrebig näherte ich mich der Tür und öffnete sie.

      Was ich sah, verschlug mir die Sprache. Das Zimmer war mit Luftschlangen und bunten Luftballons geschmückt. Über dem Bett hing ein großes Just-Married-Schild und auf dem Bett lag Lisa. Ihre Hände waren über ihrem Kopf an das zum Bettgestell gehörende große Gitter gefesselt. Ihre Beine waren angewinkelt zusammengebunden und auseinandergeklappt. Sie lag da, wie man sich einen Frosch auf dem Rücken vorstellt. Ein süßer Frosch. Ein süßer, stummer Frosch, denn sie war obendrein noch geknebelt. Sie starrte mich an und brummte ein paar unverständliche Töne in das dunkelblaue Tuch, das zwischen ihren Lippen steckte. Ich sah die sündigen Dessous, die das Hochzeitskleid den ganzen Tag über vor mir verborgen hatte, das obligatorische Strumpfband und ich sah Lisas wohliges Rekeln. Zumindest interpretierte ich ihre Bewegungen als solches.

      Es war unerwartet warm im Zimmer und ich hatte plötzlich keine Eile mehr. Erstaunlich schnell begriff ich, dass Lisa nicht in Gefahr war, und ich erinnerte mich an Annabelles Worte, dass ich die Hochzeitsnacht genießen soll. Und ich verdrängte, dass dieser Erwin sie gerade so gesehen hatte. Er musste bis eben hier gewesen sein, bis Annabelle und ich eintrafen. Dann hatte er sich durch die Hintertür hinausgeschlichen und dabei ordentlich Krach gemacht, damit ich auf das Zimmer aufmerksam wurde. Wahrscheinlich gehörte ihm die Hütte. Von wegen Spielschulden. Die beiden hatten mich ganz schön hochgenommen, und ich hatte nicht einen Moment an der Echtheit ihres Schauspiels gezweifelt.

      Langsam näherte ich mich dem großen Bett mit den weißen Metallgittern an Kopf- und Fußende. Lisa sah mich mit verklärtem Blick an und seufzte leise. Mir wurde immer wärmer. Aber nicht nur deshalb begann ich mir mein Hemd aufzuknöpfen. Ich grinste dabei, weil ich das Gefühl hatte, dass es Lisa viel zu langsam ging, was für mich ein guter Grund war, noch langsamer zu machen. Ich zelebrierte das Ausziehen jedes einzelnen Kleidungsstücks und ließ Lisa dabei nicht aus den Augen. Den Hosengürtel löste ich nicht einfach nur, sondern zog ihn langsam aus den Schlaufen meiner Hose heraus. Lisa liebte den edlen dunkelblauen Gürtel, weil sie wusste, was man damit alles anstellen konnte. Sie hatte ihn mir geschenkt, wie so viel andere schon zuvor. Ich besaß mittlerweile mehr Gürtel als Hosen und war mir sicher, dass meine Sammlung nie komplett sein würde, wenn es nach Lisa ging.

      Schließlich stand ich nackt neben dem Bett. So hatte ich mir den Beginn unserer Hochzeitsnacht nicht vorgestellt. In meinen kühnsten Träumen hätte ich das nicht. Doch es hätte nicht schöner sein können. Gerade weil es so unerwartet war. Irgendwie erzwungen, ohne eigenes Zutun. Doch daran dachte ich in dem Moment nicht. Ich genoss Lisas Anblick, ihre Hingabe und ihre Hilflosigkeit. Und ich wusste, dass auch sie es genoss. Dazu brauchte sie nichts sagen. Es reichte der Blick, den sie mir schenkte, ihre Regungen unter mir und ihr leises Seufzen, das mir wohl vertraut erklang.

      Als ich mich über sie beugte und mich vorsichtig auf sie legte, waren unsere Gesichter so nah beieinander, dass unsere Nasenspitzen sich fast berührten. Vorsichtig zog ich ihr mit den Fingern beider Hände das durchnässte Tuch aus dem Mund, ohne den Knoten in ihrem Nacken zu lösen, und drückte es unter ihr Kinn. Lisa rieb ihre roten Lippen aufeinander und schluckte den sich in ihrer Mundhöhle angesammelten Speichel hinunter. Ich holte tief Luft, während unsere Blicke aneinanderklebten. Lisa raubte mir den Atem. Nie zuvor hatte ich sie so sehr gewollt wie in diesem Moment. Doch obwohl ich sie mit Haut und Haaren verschlingen wollte, zögerte ich noch.

      „Wo warst du so lange, du Mistkerl?“, flüsterte Lisa. Ich genoss ihre Hilflosigkeit und wollte sie bis ins Unendliche auskosten, je mehr ich ihre aufsteigende Hitze und ihr unbändiges Verlangen unter mir spürte. Ich kannte sie nur allzu gut und wusste genau was in ihr vorging. Ich sah es in ihren Augen und in jedem Zug ihres Gesichts. Jede Faser ihres Körpers, der mit roten Seilen gebunden unter mir lag, schrie nach mir. Doch ich verweigerte mich ihr noch, weil es ihr Verlangen noch um so mehr steigerte, je länger ich sie in ihrer Hilflosigkeit verharren ließ.

      Mehrmals versuchte Lisa mich mit ihren Lippen zu erreichen, doch jedes Mal zog ich meinen Kopf so weit zurück, dass es ihr nicht gelang, meinen Mund zu berühren, und ihr nichts weiter blieb, als sich zurück ins Kissen fallen zu lassen. Doch mit jedem neuen Versuch strengte sie sich mehr an, um mir noch weiter entgegenzukommen, was mir nur ein noch breiteres Grinsen entlockte, wenn ich den entscheidenden Zentimeter weiter zurückwich, dem sie nicht mehr folgen konnte.

      Irgendwann hielt sie die Spannung, ließ den Kopf nicht wieder sofort frustriert zurück ins Kissen sinken, sondern hauchte mit fiebriger Stimme: „Küss mich endlich, ich verzehre mich nach dir.“


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      Wenn euch die Geschichte gefallen hat, dann freut sich der Autor über eure Likes und Kommentare!
      Bitte liked jedoch nicht diesen Beitrag, da er nicht vom Autor eingestellt wurde, sondern im Rahmen des Geschichtenadventskalenders.
      Der Autor wird, sofern er es möchte, zeitnah hier eine Antwort posten. Diese dann bitte liken, so dass eure Likes auch bei ihm ankommen.

      AleaH schrieb:

      und ich hatte nicht einen Moment an der Echtheit ihres Schauspiels gezweifelt.
      Ich auch nicht! Ich dachte die ganze Zeit: "Das KANN doch nicht jugendfrei sein! :gruebel: "
      Vielen Dank! :D
      Auch wenn es widersprüchlich klingt:
      Ihr Ego muss stark genug sein, um seine begrenzte, defensive Haltung und Kontrolle aufgeben zu können.
      Sie brauchen ein starkes Ego, um das Ego transzendieren zu können.

      - John Bradshaw, Das Kind in uns -

      LillyRainbow schrieb:

      Vielen Dank, ich freu mich schon auf den 18.12.2022 ...
      Ich auch :yes:

      Und bestimmt sind die Protagonisten dann schon Eltern :secret:

      AleaH schrieb:

      Sie hat in den letzten Tagen öfter mal über Übelkeit geklagt.
      ;)
      Auch wenn es widersprüchlich klingt:
      Ihr Ego muss stark genug sein, um seine begrenzte, defensive Haltung und Kontrolle aufgeben zu können.
      Sie brauchen ein starkes Ego, um das Ego transzendieren zu können.

      - John Bradshaw, Das Kind in uns -