Rituale

      Meine Rituale sind geeignet, meinen Tag zu strukturieren. Eingeübt und zur Gewohnheit geworden ermöglichen sie es mir, mein Leben zu gestalten; morgens aufzustehen und durch den Tag zu lavieren, die Schwierigkeiten zu meistern oder zu umschiffen und am Ende des Tages schlafen zu gehen. Nach dem Sinn frage ich nicht. Der Sinn scheint klar zu sein. Weiter zu machen, einen Schritt nach dem anderen, auf ein Heute folgt ein Morgen, folgt ein Übermorgen. Nichts ändert sich, Gleiches folgt dem immer Gleichen. Auch meine Rituale sind immer die Gleichen. Das Morgenritual, mit Kaffee und dem Konsum der täglichen Nachrichten. Es lenkt mich ab von der Tristesse des täglichen Einerleis, lenkt meine Gedanken auf andere Sphären.

      Um meine Gedanken nicht nur auf die Negativität der Nachrichten zu richten, habe ich etwas Angenehmes in mein tägliches Morgenritual eingebaut. Eine Nachricht an einen lieben Menschen, im Moment nur an einen. Was, wenn diese weg fällt? Wenn mein Morgenritual durch das Fehlen des positiven Gedankens irritiert wird?

      In der Negativität verharren mag ich nicht, also auch keine Nachrichten mehr. Was bleibt ist die Leere, die endlose Leere der Einsamkeit, keine Reflektion, keine Resonanz. So sehr diese Leere einem engen Gefängnis gleicht, so sehr fehlen ihr die Wände, die ein Echo zurück werfen könnten. Einst habe ich meine Verzweiflung hinaus geschrien in die Welt, nach der Verzweiflung folgt die Resignation.

      Was, wenn meine Gedanken von der Leere ergriffen werden, Intuition und Kreativität dahin schwinden, hineingesogen in das schwarze Loch des ewigen Nichts? Ich spüre schon, wie sie davon gleiten, sich auflösen im Nebel des Nicht-Gelebten, Nicht-Erlebten. Erzählungen, die nicht mehr erzählt werden, Geschichten, die nicht mehr geschrieben werden. Wo bist du hin, meine Muse, Quell meiner Assoziationen, Genese meiner Ideen, Funke meiner Inspiration? Entwischt, fortgegangen, untergegangenen im Sumpf der eigenen Tragik.

      Doch halt. Noch ist es nicht zu spät. Ein neues Pflänzchen keimt am Boden der Ausweglosigkeit. Noch klein, doch hellgrün leuchtend in der Schwärze des Nichts. Der Keim der Hoffnung. Ein morgentlicher Spaziergang wird dem Ritual hinzugefügt. Frische Luft klärt den Verstand, die Nebel lichten sich. Das Licht des anbrechenden Tages erhellt das Gemüt, die Wärme der Sonne vertreibt die Erstarrung. Helles Grün sprießt aus allen Poren der Erde, neues Leben wird geboren.

      Endlich Frühling!