08.12.2023 ✷ Die Vergessenen

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      08.12.2023 ✷ Die Vergessenen

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      ✵ 8. Dezember ✵

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      Die Vergessenen

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      Von Teufelanna


      Paul

      Es war bereits spät am Abend, als ich schnell zum Einkaufsladen am Markt lief. Viel zu spät war mir aufgefallen, dass mir für das Wochenende noch einiges fehlte. Nicht dass ich besonders kreativ kochen würde, aber ich musste ja auch nur mich zufriedenstellen. Wehmütig dachte ich an die Adventszeit im letzten Jahr zurück. Da habe ich jeden Adventssonntag bei meinen Eltern verbracht. Jedes Jahr hatten wir die Sonntage besonders zelebriert. Jeder war mal dran mit Kochen und so gab es an einem Sonntag das Dreigänge-Menü meines Vaters und am nächsten Brotzeit, hergerichtet von meiner Mutter. Ein einziges Mal hatte sie versucht, das Brot dafür selber zu backen, allerdings wusste sie nicht, wie lange es in den Ofen musste und hatte es geschafft, die gute Brotbackmischung in ein Stück Kohle zu verwandeln. Wir wurden vom Rauchwarnmelder im Wohnzimmer auf die Misere aufmerksam gemacht. Fluchend waren mein Vater und ich in die Küche gerannt. Während er den Ofen ausgestellt hatte, kümmerte ich mich darum, alle Fenster aufzureißen.

      Vorsichtig sah meine Mutter dann um die Ecke und betrachtete das schwarze Brot, das auf dem Backblech lag: „Meint ihr, wenn wir die Kruste abschneiden, können wir es noch essen?“ Entgeistert sahen Vater und ich uns an und tauschten einen verzweifelten Blick. Keiner von uns wollte Mutter erklären, dass es wohl heute Abend kein Brot mehr geben würde. Der Blick meines Vaters wurde strenger und ich gab unser kurzes Blickduell auf. „Du Mama, ich glaube, wenn wir alles Verbrannte abschneiden, dann ist nichts mehr übrig. Wie wäre es, wenn wir einfach Pizza bestellen?“ Zufrieden sah mein Vater mich an und ich zwinkerte ihm verschwörerisch zu. „Ich könnte auch einfach eben ein neues Brot backen, ich habe noch mehr von der Brotbackmischung.“ „NEIN!“, erklang es gleichzeitig von uns beiden. Geknickt durch unsere heftige Reaktion sah meine Mutter zu Boden und in dem Moment tat mir meine Reaktion direkt leid. Ich trat an sie heran und schlang meine Arme um sie. „Ist ja schon gut, kein selbstgebackenes Brot mehr. Nächstes Jahr kaufe ich wieder eins und los jetzt. Wir müssen schnell bestellen, Mario braucht sonntags immer ewig, um uns Pizza zu bringen.“ Wieder mit guter Stimmung hatten wir uns Pizzen bestellt und dann einen lustigen Abend genossen.

      Meine Leidenschaft fürs Kochen hatte ich eindeutig von meinem Vater geerbt, allerdings auch die mangelhaften Fähigkeiten meiner Mutter. So hatte auch nach einigen meiner Experimente schon Mario in seiner Pizzeria als Retter des Abends herhalten müssen. „Verdammt“, ein Fluch entkam mir, als ich so in Gedanken versunken auf einer kleinen Eisfläche ausrutschte und es nur mühsam schaffte, mein Gleichgewicht zu halten. Ich schüttelte den Kopf, um die Erinnerungen loszuwerden und versuchte, das Gefühl der Trauer und Einsamkeit zu verdrängen. Die schönen Erinnerungen machten mir schmerzlich bewusst, dass ich auf diese Art nie wieder die Adventszeit verbringen würde. Vor dem Einkaufsladen angekommen, holte ich mir eine Zigarette aus der Tasche und zündete sie mit leicht zitternden Händen an. Die Trauer war so stark, dass mir das Atmen schwer fiel.
      Marie

      „Ich hasse den Winter, ich hasse Eis, ich hasse Schnee, ich hasse Kälte“, leise vor mich hin fluchend stolperte ich langsam die Straße entlang. Wenn ich meine Vorräte nicht schon aufgebraucht hätte, müsste ich zu dieser Uhrzeit gar nicht mehr das Haus verlassen. Dabei war ich doch gestern erst einkaufen und Nachschub besorgen. Eigentlich konnte ich auch zum Kiosk in der Nachbarschaft gehen, aber Mehmet hatte einen Notfall in der Familie und war für mehrere Wochen in der Türkei. Jetzt musste ich wirklich schon wieder in den Einkaufsladen. Diesmal musste ich mir noch mehr besorgen, damit ich übers Wochenende kam. Bei dem Wetter wollte ich das Haus nicht öfter als notwendig verlassen. Meine Wohnung war nur ein Schuhkarton, aber immerhin war es mein Zuhause. Meine Nachbarn hatten alle schon seit ner Woche die dämlichen Lichter an, ich würde mit so nem sentimentalen Kram gar nicht erst anfangen. „Hui“, knapp konnte ich noch der Laterne ausweichen, wo war die denn so schnell hergekommen? In meinem Versuch auszuweichen, stieß ich gegen jemanden, der offenbar versucht hatte, mich zu überholen. „Scheiß Alki, weg von mir.“ Arschloch, dachte ich mir. Vermutlich sollte ich mehr Abstand zur Straße halten. So ganz sicher war mein Gang offenbar nicht. Trotzdem war ich keine Alkoholikerin, ich trank nur Bier, keine harten Sachen und auch nie bis zum Filmriss. Na gut, meistens zumindest. An den kalten Tagen half das Bier gegen die Kälte, dann war mir gleich viel wärmer.

      Ich rieb meine Hände aneinander, um sie irgendwie ein wenig wärmer zu kriegen. Wie schnell fielen einem die Hände bei der Kälte eigentlich ab? In den Taschen meiner Jeans suchte ich nach den Resten meines Tabaks, mit zitternden Händen drehte ich mir eine. Dafür musste ich stehenbleiben, wodurch mir noch kälter wurde. Wo war denn jetzt das scheiß Feuer? Verdammt, lag offenbar noch zu Hause. Ich steckte die gedrehte Zigarette wieder ein und beeilte mich, so gut wie möglich zum Supermarkt zu kommen.

      Vor dem Supermarkt stand ein Mann, der rauchte, vielleicht konnte der mir Feuer geben. „Tachchen, haben Se mal Feuer für mich?“ Musternd betrachtete er mich und ich versuchte es mit einem Lächeln. Er griff in seine Tasche und streckte mir das Feuerzeug entgegen. „Können Sie behalten.“ Ich grummelte ein Danke, zündete meine Zigarette an und inhalierte das Nikotin. Unauffällig musterte jetzt ich den Mann. Er war Mitte 30 schätzte ich, den Klamotten nach irgendwas Richtung Bürofuzzi. Ich sah, wie er mich auch wieder musterte, hielt mich wahrscheinlich auch für Abschaum, wie die meisten anderen. Konnte ja nicht jeder so ein tolles Leben haben wie er. Er drückte seine Zigarette aus und ging, ohne sich zu verabschieden, in den Laden. Wieso auch Höflichkeiten an ene wie mich verschwenden, vielleicht hatten sie Recht, mich so zu behandeln. Vielleicht waren wir wirklich nix wert, vermutlich war deshalb auch keiner bereit, mal seine Zeit an mich zu verschwenden. Aber was machte es aus, einen Abend weiter alleine zu sein, wenn es doch Alltag war.
      Simon

      Gestresst warf ich einen Blick auf meine Armbanduhr. Der Zeiger kroch heute wieder seinen Weg um die Uhr. Jedes Jahr zur Adventszeit fragte ich mich wieder, wieso ich freiwillig im Einzelhandel gelandet war. Die Menschen waren alle noch unfreundlicher, noch gehetzter, noch genervter und ließen es nur zu gerne an mir und meinen Mitarbeitenden aus. Aufgrund von diversen Krankheitsfällen musste auch ich heute aushelfen. Natürlich konnte mich dazu niemand zwingen, aber zumindest meinem eigenen Anspruch an mich entsprach es. Außerdem hatte ich ein wirklich tolles Team hier, was immer zusammenhielt, auch wenn mal eng wurde. Bei dem Gedanken an den Papierkram, der heute Abend nach Ladenschluss noch auf mich wartete, wurde mir schlecht. Ein weiterer langer Abend im Büro. Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Frau wahr, die im Getränkegang beim Bier rumlungerte. Unauffällig behielt ich sie im Auge, unter den zerrissenen Klamotten konnte sie zwar nichts verstecken, falls sie was klauen wollte, aber ich wollte kein Risiko eingehen.

      Ich hatte sie bereits die letzten Tage gesehen, da hatte sie Bier für eine halbe Kompanie gekauft. Ich versuchte, nicht zu werten, aber es misslang mir kläglich. Ich konnte mit Alkoholikern nichts anfangen, zu oft suchten sie Streit und machten mir Ärger hier. Offensichtlich mühsam verstaute sie einige Sixpacks im Wagen und machte sich dann auf den Weg zur Kasse. Bis ich sicher sein konnte, dass meine Mitarbeiterin sie im Blick hatte, beobachtete ich sie. „Na Simon, freust du dich auch schon auf Feierabend? Hast du noch was Schönes vor?“ Mit einem breiten Grinsen im Gesicht sprach Jule mich an. Sie war die neuste im Team und hatte sich trotz der Jahreszeit bisher ihre wunderbare Fröhlichkeit behalten. „Ach, ich mach gleich nur noch ein wenig Papierkram und dann lasse ich mir, glaube ich, ein Taxi kommen, um nach Hause zu fahren. Danach öffne ich eine schöne Flasche Wein und lasse den Abend mit einem schönen Buch ausklingen, und du?“ Aufgeregt erzählte sie von ihrer Abendplanung und während ich ihr zuhörte, überschlug ich kurz die Zeit, bis wann ich mich in mein Büro zurückziehen konnte. Mir fiel auf, dass ich wohl kurz was nicht mitbekommen hatte und fragte nochmal nach, was sie gesagt hatte. „Ich hatte nur gesagt, dass ich deine Frau bewundere, dass sie so gut mit deinen langen Arbeitszeiten klarkommt.“ Anstatt darauf zu antworten, entschuldigte ich mich unter einer fadenscheinigen Begründung. Sie sollte nicht sehen, was das mit mir machte. Sie hatte ja recht, meine Frau Yvonne störte sich nicht an meinen Arbeitszeiten, aber das nicht etwa, weil sie so großzügig war, sondern weil sie froh war über jede Minute, die wir nicht miteinander verbrachten.

      Schon vor langer Zeit war aus unserer Ehe nur noch eine Zweckgemeinschaft geworden. Ihr Zweck bestand darin, eine schöne Wohnung zu haben, mein Zweck war, dass ich nicht alleine sein musste. An die bleierne Last der Einsamkeit hatte ich mich gewöhnt, aber wenn ich zusätzlich noch alleine wäre, würde ich es nicht ertragen. Auch wenn es nicht fair war, meine Mitarbeitenden jetzt alleine zu lassen, ging ich nach hinten in mein Büro und sah mir an, was ich heute noch schaffen musste. Alles ausblendend vertiefte ich mich in meine Arbeit, die Abschiedsgrüße blieben unerwidert und als ich wieder auf die Uhr sah, war es bereits kurz vor Mitternacht. Meistens genoss ich die Stille, wenn alle anderen bereits weg waren, aber aus irgendeinem Grund bedrückte sie mich heute. Ich sah auf mein Handy, um Yvonne zu schreiben, dass ich mich auf den Heimweg machen würde, doch da sah ich bereits ihre Nachricht: Bin mit den Mädels unterwegs und komme nicht mehr nach Hause. Y

      Ein weiterer Stein, der sich auf meine Seele legte, immer öfter war sie nicht mehr zu Hause und ich konnte inzwischen glücklich sein, wenn sie mir überhaupt irgendeine Nachricht hinterließ. Kraftlos rief ich ein Taxi und ging nach draußen an die Straße. Ich fror bitterlich, während ich wartete. Es war unklar, ob es von den winterlichen Temperaturen kam oder aus meinem Inneren.
      Uschi

      Verwundert sah ich auf die Adresse, wo ich meinen nächsten Fahrgast abholen sollte. Um diese Uhrzeit gab es am Supermarkt eigentlich nie Fahrgäste. Immer mal wieder konnte ich ein paar Menschen auf dem Marktplatz mitnehmen. Diese Jahreszeit war für mich am lukrativsten und nach den schwierigen Jahren mit Corona war ich dringend auf eine erfolgreiche Wintersaison angewiesen. Am Supermarkt angekommen, stand bereits ein Mann an der Straße und guckte sich um, wahrscheinlich suchte er mich. Ich hielt am Straßenrand und sofort öffnete er die Tür und setzte sich nach hinten. Er nannte mir die Adresse, dann fuhr ich los.

      Ich versuchte ein Gespräch anzufangen, aber die einsilbigen Antworten zeigten mir, dass er nicht reden wollte. Solche Menschen waren mir tatsächlich immer suspekt. Gleichzeitig genoss ich die Ruhe. Ich hatte heute wieder so viele Fahrgäste und die meisten haben mir ihr Leid zum Stress der Adventszeit geklagt, über die Familie, die Freunde, die Arbeit und noch so viel mehr. Das war der Teil meiner Arbeit, der mir am meisten Spaß machte. Die Menschen öffneten mir für die Dauer der Fahrt ein Fenster in ihr Leben und ich durfte für den Moment ein Teil davon sein. Wenn dann die Tür zugeschlagen wurde, war ich wieder nur mit meinem Taxi alleine. Das Fenster verschlossen und nur noch die Hoffnung, dass der oder die Nächste ein neues öffnen würde. Menschen wie mein aktueller Fahrgast führten dazu, dass mir innerlich kühler wurde und dunkle Wolken in meiner Seele aufzogen. Ich wollte aber auch niemandem ein Gespräch aufzwingen, wahrscheinlich hatte er lange gearbeitet und war froh, seine Ruhe zu haben. Über meine Gedanken war ich schon an der genannten Adresse angekommen, mein Fahrgast bezahlte und gab auch noch ein kleines Trinkgeld. Wenn ich mir die Gegend anguckte, in der ich ihn absetzte, dann bestätigte sich mal wieder das Klischee, dass die, die das Geld hatten, am geizigsten waren.

      Mich ein wenig ärgernd machte ich mich auf zum Bahnhof im Ort, vielleicht konnten da noch ein paar Nachtschwärmer ein Taxi nach Hause gebrauchen. Als ich an einer Ampel stand, konnte ich sehen, dass leichter Schneefall einsetzte und die Schneeflocken wirbelten um das Licht der Straßenlaterne. Für einen Moment wirkte die Welt vollkommen friedlich. Die Ampel wurde grün und ich fuhr los. Noch bevor ich realisieren konnte, was geschah, hörte ich das Quietschen von Bremsen und sah, wie ein anderes Auto in meine Seite krachte.

      Nach einem längeren Moment der Bewusstlosigkeit wachte ich wieder auf. Ich hörte mehrere Stimmen und das erste, was ich sah, war die Kleidung eines Feuerwehrmannes. „Was ist passiert?“, fragte ich leise. Trotzdem hatte er mich gehört. Er versicherte mir, dass sie versuchten, mich aus dem Auto herauszuholen, es aber noch einen Moment dauern würde.

      Ich spürte keine Schmerzen, was ich als gutes Zeichen erachtete, doch dadurch gab es auch keine Ablenkung. Ich hörte bruchstückhaft, was die Rettungskräfte sagten und diese Bruchstücke machten mir große Angst. Wie wohl viele Menschen konnte ich Krankenhäuser nicht ausstehen und die Vorstellung, gerade in der Adventszeit dort alleine zu liegen, niemanden zu haben, der mir Kleidung brachte oder mich besuchen kam, all das trieb mir Tränen in die Augen. Doch die größte Angst hatte ich davor, hier auf der Straße einsam zu sterben.

      Wieder kam der Mann, erzählte, dass es nicht mehr lange dauern würde, doch in meinem Kopf drehte sich alles. Ich wollte nicht sterben, ich hatte doch noch so viele Träume, die ich mir nie erfüllt hatte. Einen Mann wollte ich kennenlernen, Freunde finde, wirklich leben. Nicht nur alleine vor mich hinexistieren. Ich merkte, wie meine Augen schwer wurden und eine starke Müdigkeit mich erfasste. Mit aller Kraft kämpfte ich dagegen an, doch meine Kraft schwand, je länger es dauerte. Noch einmal öffnete ich die Augen, suchte nach dem Feuerwehrmann, doch ich konnte ihn nicht sehen. Ich wollte an irgendetwas Positives denken, doch in meinem Kopf war nur noch die Trauer über ein Leben in Einsamkeit. Der Müdigkeit nachgebend, schloss ich die Augen.

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      Wenn euch die Geschichte gefallen hat, dann freue ich mich über eure Likes und Kommentare!
      Liebe @Teufelanna, Du fährst aber die ganz harten Geschütze der besinnlichen Weihnachtszeit auf! ;(

      “Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.”
      1.Korinther 13,13
      Ich bin nicht religiös, aber wenn wir nicht mehr an uns und das Gute im Menschen glauben, die Hoffnung verlieren und keine Liebe schenken oder spüren können, ergibt wirklich nichts einen Lebenssinn. Die drei kosten nichts und sind doch unbezahlbar.

      Mein eigenes Glück wird mir gerade noch einmal sehr bewusst - und dessen Zerbrechlichkeit auch.
      Vielen Dank für die Erinnerung daran.
      Mit einer verliebten Frau kann man alles tun, was sie will.
      (Gustav Klimt)