Das Forumsmitglied, welches diese Geschichte geschrieben hat, möchte auf eigenen Wunsch anonym bleiben. Wenn euch die Geschichte gefallen hat, lasst dennoch gern eure Kommentare oder einen "Daumen hoch" hier. So kommen Lob und eure Anerkennung trotz Anonymität an.
✵ 10. Dezember ✵
╔═════════ » ✵ « ═════════╗
Die größte Sünde
╚═════════ » ✵ « ═════════╝
von anonym
» ✵ «
✵ 10. Dezember ✵
╔═════════ » ✵ « ═════════╗
Die größte Sünde
╚═════════ » ✵ « ═════════╝
von anonym
» ✵ «
Sie schnappte sich die Einkaufstüte, warf sich die Kapuze über den Kopf und verließ ohne einen Abschiedsgruß fluchtartig den Laden. Sie hasste Weihnachten! Als sie eilig durch die Straßen des kleinen Kaffs huschte, in dem jeder Anwohner sich in einem Lichterfeuerwerk überbot, wurde ihr mal wieder bewusst, wie sehr sie Weihnachten hasste. Nicht nur wegen der vollen Einkaufsläden an den Samstagabenden. Das war, zugegeben, in einem erzkatholischen Dorf in Rheinhessen nicht gerade der günstigste Standpunkt. Dass sie sonntags nicht in die Kirche ging, war sofort aufgefallen. Man wandte sich auf den Straßen von ihr ab. Im kleinen Dorfladen bediente man sie nur widerwillig, und meistens taten die Verkäuferinnen, wenn sie nach einem Produkt fragte, als hörten sie sie nicht. Ja, manchmal hatte sie sogar den Eindruck, die örtliche Post verschluderte absichtlich ihre Pakete und Briefe, denn es kam erstaunlich häufig vor, dass ihre Sendungen für ihre Patenkinder nicht ankamen.
Kinder. Das war ohnehin so ein Ding. Als dreißigjährige Frau hatte sie eigentlich Kinder zu haben. Hatte sie aber nicht. Sie hatte nicht einmal einen Mann. Sie hatte mal einen gehabt, ja. Also, nicht verheiratet, was das nächste Unding gewesen war. Eine „wilde Ehe“ mit einem freigeistigen, leidenschaftlichen, sie über alle vorstellbaren Grenzen hinaus liebenden wilden Mann, der sie in den Genuss der Devotion eingeführt hatte (was hier, wo die Missionarsstellung zum Zeugen von Kindern gerade einmal gebilligt war, selbstverständlich keiner wusste!). Sie hatten sich in Hamburg, wo sie geboren und aufgewachsen war, auf einem Kongress kennengelernt. Liebe auf den ersten Blick. Sie war zweiundzwanzig, er fünfundzwanzig gewesen. Und die Begegnung mit ihm hatte sie aus einem hastigen, frigiden und arbeitszentrierten Leben in eine Welt multipler Orgasmen hineinkatapultiert. An ihn hatte sie damals ihre Jungfräulichkeit verloren. Nach einem Jahr, mit dem Ende ihres Studiums, war sie zu ihm gezogen – hier, nach Rheinhessen, seine Wahlheimat. Wegen der Berge und des hervorragenden Weines. Und ihre Liebe zueinander war gewachsen, mit jedem gehauchten „Ja, Herr“ mehr. Seinen Gottesglauben hatte sie zwar nie geteilt. Aber er hatte dann immer nur verschmitzt gelächelt und gesagt: „Das ist okay, Gott liebt dich trotzdem. Aber nicht so sehr wie ich!“ Und dann hatte er sie an den Hüften gepackt, hochgehoben und einmal herumgewirbelt. Das erste Mal im Leben hatte sie das Gefühl gehabt, wirklich angekommen zu sein.
Bis zum Tag seines Unfalls. Auf dem Rückweg von der Arbeit hatte ihn ein LKW-Fahrer beim Abbiegen übersehen. Die untergehende Dezembersonne hatte den Fahrer geblendet, sodass ihm das Motorrad entgangen war. Er hatte ihrem Liebsten die Vorfahrt genommen. Da hatte sie das erste Mal gebetet. Sie hatte gebetet und zu Gott gefleht, endlich bereit, an ihn zu glauben. Es hatte nichts genützt. Fünf Tage nach dem Unfall war ihr Liebster an den Folgen seiner Verletzungen im Krankenhaus gestorben. Das war der 10. Dezember vor vier Jahren gewesen. Und seitdem hasste sie Weihnachten. Und die Religion allgemein noch mehr.
Sie kam an ihrer Wohnung an. Diese war leicht zu erkennen: Es war das einzige Haus in der ganzen Straße – ach was, im ganzen Dorf – das keinerlei Weihnachtsbeleuchtung hatte. Sie ging hinein, verstaute die gekauften Lebensmittel und ließ sich anschließend in den Sessel im Wohnzimmer fallen, in dem häufig er gesessen hatte, sie nackt und glücklich zu seinen Füßen. Das war seit vier Jahren vorbei. Morgen, am zweiten Advent, jährte sich sein Tod zum vierten Mal.
Sie holte sich Wein aus dem Schrank. Schüttete sich ein und trank. Der Wein benebelte ihren Kopf und tat ihr nach der anstrengenden Arbeit gut. Sie war zurückgekehrt in ihr altes, arbeitsames Leben. Eine halbe Stunde entfernt, in der nächsten Großstadt, war sie Dozentin an der Uni für Plasmaphysik. Bedauerlicherweise hatte sie ihre wichtigste Karrierezeit im wahrsten Sinne des Wortes verschlafen – mit ihm. Anstatt Fachartikel zu schreiben und ihre Karriere als junge Doktorandin voranzutreiben, hatte sie ihm in leidenschaftlichen Verschmelzungen rote Striemen ihrer Fingernägel auf dem Rücken hinterlassen – die einzige Ader, bei der man ihm wohl etwas Masochismus hatte unterstellen können. Aber ihre Promotion hatte im Endeffekt zu lange gedauert, um nun sinnvoll daran anzuknüpfen.
Nun war sie hier. Alleine in einem erzkatholischen Dorf. Die wandelnde Sünde. Die perfekte Kandidatin für die Hölle. Sie trank noch ein Glas. Und später noch eines. Ließ die Zeit verstreichen, während sie über ihr verschwendetes, einsames Leben sinnierte. Und wartete. Irgendwann schlug die Uhr schließlich Mitternacht. Sonntagnacht. Jetzt war es genau vier Jahre her. Sie seufzte und zündete die zwei Kerzen auf dem Adventskranz an, den er ihr hinterlassen hatte. „Fröhlichen zweiten Advent“, murmelte sie sarkastisch in die Stille hinein. In einer ungelenken, angetrunkenen Bewegung stieß sie gegen die Flasche auf dem kleinen Beistelltisch, der neben dem Sessel stand. Die Weinflasche kippte um und ihr ganzer restlicher Inhalt lief rot über die Tischplatte und auf den Teppich.
„Aaaach, GOTTVERDAMMT!“, fluchte sie und sprang erschrocken auf. Sie torkelte in die Küche und holte sich einen feuchten Lappen und eine Küchenrolle, um schnell zu retten, was noch zu retten war. Sie wischte die Plörre auf, aber aus dem Teppich würde sie die Flecken wohl nicht mehr herausbekommen. Der Wein war auch in die Ritzen der Schublade, die der Beistelltisch hatte, gelaufen. Als sie diese aufzog, um auch dort die Reste des Weins zu entfernen, erstarrte sie. In der Schublade lag seine Bibel. Die rote Flüssigkeit war gerade dabei, von den dünnen, durstigen Seiten aufgesogen zu werden und die angetrunkene Frau starrte einfach nur auf das dicke kleine Buch. Scheinbar hatte sie vier Jahre lang nicht in diese Schublade geschaut.
Vorsichtig nahm sie die Bibel schließlich in die Hand. Sie fühlte sich an, als sei sie tonnenschwer. Tonnenschwer mit den Erinnerungen beladen, wie er manchmal in dem Sessel gesessen und in der Bibel geblättert hatte. Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen. Dann, bevor sie es kontrollieren konnte, stieg schon der erste Schluchzer ihre Kehle hinauf. Und schließlich weinte sie ungehemmt. „Gott!“, schrie sie. „Du elender Lügner! Du hast mir alles genommen! Alles, was ich je hatte! Ich hasse dich!“ Und dann weinte sie, bis sie nicht mehr konnte.