Von "Emmanuelle" zu Gentledom

      Von "Emmanuelle" zu Gentledom

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      Ich habe gerade auf Arte ( Mediathek ) eine, wie ich finde, sehenswerte Dokumentation über den Film "Emmanuelle" gesehen. Er erschien 1974 (ich war 17), vorher gab es "Der letzte Tango in Paris", kurz danach "Die Geschichte der O". Ich habe damals natürlich alle Filme im Kino gesehen.

      Es war eine aufregende Zeit. Eine Zeit, die Fortschritt versprach. Raus aus den prüden und noch vom Faschismus geprägten 50ern und 60ern, in denen ich aufgewachsen war. In der es, selbst in den Schulen, noch die (nicht-konsensuelle) Prügelstrafe gab, in der Mütter mit Kochlöffeln hinter ihren entsetzten Kindern herjagten, in der Volksschulrektoren, den Kopf eines Schülers zwischen den eigenen Oberschenkeln geklemmt, vor versammelter Klasse dünne Bambusstöcke auf seinem Hintern zerschlugen, in der selbst vorgeblich fortschrittliche Gymnasialllehrer Ohrfeigen verteilten, bei denen man sich wundern konnte, dass die Halswirbelsäule intakt blieb, in der dieselben mit sadistischer Verve mit äußerst schmerzvollen "Knüffen" die Wangen ihrer Schüler traktierten, in der kleine Jungen mit Gewalt und gegen ihren Willen beschnitten wurden.

      Und dann eben die 70er. Ich habe die "Emmanuelle"-Bücher und die (ersten) Filme verschlungen. Man kann sie als Soft-Pornografie abtuen. Für mich waren sie die Verheißung einer anderen Welt, der Freiheit und der freien Liebe, der Lust und der Intensität und der Tiefe. Der letzte Tango zeigte mir das Animalische im menschlichen Begehren, die Geschichte der O nicht nur die dunkle Seite der Lust, sondern auch, dass ich nicht alleine war mit meinen Fantasien von Macht, Unterwerfung und Lustschmerz.

      Wie gesagt, die 70er versprachen Fortschritt. Und es gab ihn auch. Jede Menge. Wir, die viel gescholtenen Boomer, haben ihn mit erkämpft. Und das war nicht immer einfach. Vieles, was heute selbstverständlich erscheint, war es früher überhaupt nicht. Und weil das so ist, erschüttert es mich zutiefst, wie sich das Rad zurück zu drehen scheint. Man kann es an ganz lapidaren Dingen merken. Seit über vierzig Jahren liebe ich es, im Urlaub FKK zu machen. Es ist einfach ein für mich unvergleichliches Körpergefühl, wirklich ein Stück Freiheit. Gerade noch im Urlaub mit meiner Liebsten mussten wir feststellen, dass es nicht mehr so einfach ist, dafür Plätze zu finden.

      Die Prüderie kehrt zurück und breitet sich immer mehr aus. Der gesellschaftliche Fortschritt insgesamt ist in Gefahr.

      Auch dieses Forum und diese Webseite ist Teil dieses Fortschritts. Denn auch diese Webseite mit all ihren zum Teil schwierigen und kontroversen, aber häufig lehrreichen Diskussionen ist Ausdruck der erkämpften Freiheit. Genauso wie die Stammtische, die Clubs, die Fetisch-Parties, die Fetisch-Messen. All das, mit dem wir unserer Identität Ausdruck verleihen, ist keine Selbstverständlichkeit. Denn es bedeutet gesellschaftliche Sichtbarkeit. Die gab es früher nicht. Und die kann uns auch wieder genommen werden.

      P.S. Als ich angefangen habe, diesen Text zu schreiben, war mir überhaupt nicht klar, wo er endet. Ich bin gespannt auf Eure Kommentare.

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      Beitrag von MatKon ()

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      Vielen Dank für diesen Beitrag, @Regardo.
      Er spiegelt wunderbar mein eigenes Empfinden zu den Veränderungen in der Gesellschaft, auch wenn ich erst in den 70ern geboren bin.

      Gerade als Frau registriere ich seit einigen Jahren, dass es auch mit den Errungenschaften der Emanzipation bei manchen nicht mehr weit her ist. Etwas, was ich z. B. in Werkstätten und Autohäusern bereits mehrfach selbst erlebt habe und da gibt es nicht den geringsten BDSM-Bezug. Ich bin mit Sicherheit keine Ultra-Feministin, aber durchaus emanzipiert und intelligent genug, um 1. zu entscheiden, was für mich bei einem Autokauf wichtig ist und 2. die Technik zu verstehen.

      Vieles entwickelt sich in Richtung schwarz oder weiß, die Farben dazwischen verblassen allmählich. Vernünftige, konstruktive Diskussionen zu führen, wird immer schwieriger. Insgesamt ist es eine Entwicklung, die mich oft genug sorgenvoll in die Zukunft blicken lässt.
      Don't dream it - be it