Seilbondage - seit wann in Europa präsent?

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      Chris242 schrieb:

      seit wann ist Seilbondage in der Szene so allgegenwärtig wie heute?

      Oder anders gefragt: Ist mir das früher nie einfach nicht so stark aufgefallen, oder ist das Thema erst in den letzten paar Jahren deutlich in den Vordergrund gerutscht?

      Ich bin da ja etwas befangen, weil ich schon ein paar Jahrzehnte mit Seilen spiele und auch heute noch immer wieder meine vor langem gemachte Beobachtung bestätigt sehe: BDSMer können nicht fesseln - will sagen: Für viele in der Szene ist Fesseln nur ein Mittel zum Zweck, das soll nicht zu viel Zeit und Mühe kosten, also greift man erst mal zu Ledermanschetten und Karabinerhaken.

      Die europäische Tradition ist nicht so lange dokumentiert wie die japanische, wo Kinbaku (also das, was hier und heute gemeinhin als Shibari bezeichnet wird) sich ja schon vor ein paar Jahrhunderten aus dem Hojo-Jitsu entwickelt hat. Aber ein Verbreitungsvektor läuft mit ziemlicher Sicherheit von Japan über dort stationierte US-Truppen in die USA und von dort in Richtung Europa.

      Andere Einflüsse sind Künstler aus dem ersten Drittel bzw. der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie John Willie oder Carlo, die real, in Fotos und in Zeichnungen Seilbondage als erotisches Thema besetzt haben. Die wurden genau wie die Fotos von Paula und Irving Klaw erst mal lange nur unter dem Ladentisch verbreitet - auch die Szene war ja recht klandestin organisiert.

      Dann kamen nacheinander die sexuelle Revolution, Pop Art und die Folgen, und die Wiederentdeckung und Neuaneignung z. B. von Bettie Page in den 80ern, durch die Bondage plötzlich zum Thema wurde. Daneben wurde Bondage in asiatischer und westlicher Ausprägung auch selbst zum Kunstgegenstand - stellvertretend sei hier Araki genannt - und langsam auch schon zur Performance-Kunst. Shibari-Shows, wie sie seit den 60ern in Japan gängig waren, fanden auf einmal auch hier statt, etwa als Teil größerer Partys. Die Szene kam ein wenig aus der Schmuddelecke, und der Austausch wurde etwas offener und breiter. Man kann über Matthias Grimme ja einiges sagen, aber er war einer der Leute, die Bondage und vor allem Bondage im japanischen Stil im deutschsprachigen Raum bekannt gemacht haben.

      Und dann ... kam das WWW: Plötzlich haben viele Menschen entdeckt, dass sie nicht allein mit ihren Vorlieben waren, und haben gleichermaßen auf den Erfahrungsschatz der früheren Jahrzehnte zurückgegriffen wie auf Erlebnisse und Fähigkeiten der Leute, denen sie online begegnet sind. Und dann konnte man auf einmal problemlos Bilder und mit wachsender Bandbreite auch Videos austauschen, wo man früher irgendwelche ausländischen Magazine am Zoll vorbeibringen musste.

      Seilbondage hat da m. E. aus mehreren Gründen einen Schub gekriegt: Sie hat - speziell on der Shibari-Variante - einen erheblichen Schauwert. Sieht im Normalfall fertig gut aus, und ein kompetenter Rigger macht aus dem Weg von der ersten Schlinge zur fertigen Suspension eine spannende Geschichte. Außerdem wirkt selbst eine heftige Seilbondage optisch meist harmloser als das BDSM-typische Gegenstück mit Ketten, Lederriemen oder noch aufwendigeren Utensilien, die Hemmschwelle zum Ausprobieren ist also niedriger - die technische Herausforderung ist eine andere Baustelle. Und schließlich sind die Basiszutaten günstiger und leichter zu beschaffen als die Hardcore-Ausstattung in Leder, Latex und Metall, was den Einstieg erleichtert.

      In den vergangenen paar Jahren ist Seilbondage mit dadurch zum Trend geworden, dass es langsam genug erfahrene Rigger auch hier gibt, die zum einen ihre Fähigkeiten öffentlich demonstrieren und zum anderen ihre Kenntnisse in Kursen weitergeben. Aber schon vor 20 oder 25 Jahren war Seilbondage in Europa durchaus bekannt und genutzt.
      Danke für den interessanten Überblick.

      Die diesbezügliche Entwicklung in den letzten 10 Jahren war für mich eine interessante, aber auch überraschende Erkenntnis, wenn man es so nennen will - zumindest von meinem Point of View, der durchaus subjektiv ist: Ich war gegen Ende der 1990er-Jahre in der "Szene" unterwegs, hab mich dann für über 10 Jahre weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Für mich hatte es damals eher einen exotischen Aspekt und wie Du erwähnst gehört es als Mittel zum Zweck dazu, in meinem Fall also, wo Manschetten und ähnliches nicht passen bzw. nicht ausreichend flexibel sind, um meine Vorstellungen umzusetzen. Das Repertoire beschränkt sich eher auf Basics und Seile waren auf Parties i.a. kaum ein grosses Thema. Nach der Pause war dann doch ein gewisser Aha-Effekt, da existierten plötzlich diverse Dojos, und auf der ersten Veranstaltung, zu der es mich 2013 verschlagen hat, waren gleich 3 Rigger parallel mit Suspension-Bondage am werken.

      Chris242 schrieb:

      Nach der Pause war dann doch ein gewisser Aha-Effekt, da existierten plötzlich diverse Dojos, und auf der ersten Veranstaltung, zu der es mich 2013 verschlagen hat, waren gleich 3 Rigger parallel mit Suspension-Bondage am werken.

      Das war genau die Zeit, als Seilbondage auch im Mainstream aufgetaucht ist und es bei RTL2 ebenso we auf Arte auf Sendeplätze geschafft hat, Da hatten es auf einmal mehr Leute auf dem Radar. Und eine optisch ansprechende Verschnürung ist halt was anderes als halbscharig irgendwie um Sub rumgeknödelte Wäscheleine - vgl. diese Beispiele. So etwas hat BDSMer angesprochen, denen die bis dahin gebotenen Bondagevarianten zu labberig, zu unästhetisch etc. waren. Viele alte (und über Jahrzehnte kursierende und auch heute noch im Netz auffindbare) Bilder sehen ja aus, als ob das Modell sich anstrengen muss, dass die Seile nicht von selbst runterfallen.

      Dazu kommt, dass eine ganze Reihe Rigger um die Zeit richtig bekannt wurden; die Boundcon ist ja als europäische Nachahmung entsprechender US-Veranstaltungen ebenfalls in diesen Jahren gestartet.