Beschütze mich vor meinen Wünschen

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      Beschütze mich vor meinen Wünschen

      Der große schwarze Landrover fährt in die kleine Sackgasse der Reihenhaussiedlung und wendet geschickt zum Parken. Die Kindersitze im Auto reihen sich ordentlich im Fahrgastraum und der Einkauf ist sicher in einem langweilig geblümten Einkaufskorb gestapelt. Wie immer. Charlotte setzt das Fahrzeug in die Parklücke und lässt ihren Kopf auf das Lenkrad sinken. Es ist spät und es dämmert bereits. Ihre Kinder warten auf Ihr Abendbrot und wie häufig ist sie schlecht vorbereitet und musste noch auf die Schnelle in den Supermarkt. Sie kann nicht aussteigen. Sie ist müde und das hintergründige Rauschen in ihrem Hirn ist nun mehr ein wummernder Bass, der sogar ihr Herz aus dem Takt bringt, so dass sie gerade nicht viel anderes wahrnehmen kann. Wie kann er es wagen? Wie kann er es wagen sie nicht zu verurteilen, sie nicht daran zu erinnern, dass sie ein Gelöbnis abgelegt hat und ihre Kontaktdaten im Anschluss einfach zu löschen? Wie kann er es wagen zwischen den Zeilen so treffend zu lesen, ihr Fragen zu stellen, die tief in ihrem Innersten bereits seit Jahren wie schwelender Rauch ihre Gedankenwelt umziehen um hiermit ihrer fein gemalten heilen Welt eine Bildstörung zu verpassen? Nein es wundert sie nicht, dass er fühlen kann warum sie leidet. Und eigentlich kann sie noch nicht einmal sagen, warum sie all ihren Schmerz so plötzlich in eine eigentlich unverfängliche Grussmail an einen noch nicht einmal nahestehenden Freund gesteckt hat. Oder vielleicht doch? Bernhard ist katholischer Seelsorger und ein sehr traditioneller Mensch. Vielleicht hatte sie darauf gehofft von ihm mit weiteren Steinen beworfen zu werden, die sie immer zum Erbauen und Erhöhen ihrer inneren Mauer genutzt hat. Charlotte öffnet Bernhards Mail ein weiteres von unzähligen Malen an diesem Tag auf Ihrem Smartphone: „Ich frage mich die ganze Zeit, warum es für dich ein schmutziges Geheimnis ist? Liegt es nicht nur an deinem Mann, sondern eher daran dass es deinem Selbstbildnis widerspricht? Die starke, dominante Charlotte, die Entscheidungen für sich, ihren Mann, ihre Kinder und ihre Firma trifft, die nichts umhauen kann und bei Schwierigkeiten eher Kampfeslust entwickelt als sich dem Schicksal zu ergeben. Und diese Charlotte hat auch ganz andere Sehnsüchte. Dominiert zu werden, nicht immer zu entscheiden, sondern klare eindeutige Richtungen gesagt zu bekommen und diesen auch folgen zu dürfen. Passen diese beiden Seiten nicht sehr gut zusammen, Charlotte? Ist es nicht die Sehnsucht nach der völligen Hingabe, der endlosen Leidenschaft. Geführt werden in völlig andere Lebenssphären und Gefühlszustände? Nicht denken müssen, sondern sich der Unterwürfigkeit hingeben zu dürfen?“ Wieder sinkt ihr Kopf auf das Lenkrad und sie kann das feuchte Brennen hinter den geschlossen Lidern nicht ausstehen. Halte durch, halte durch, halte durch, bleib nicht stehen. Was nützen all diese zu sich selbst gesprochenen Durchhalteparolen, wenn sie sich nun doch in Ihrem Selbstmitleid suhlt. Was haben Bernhards Worte nur angerichtet? Kann jemand an einem gebrochenen Herzen leiden und gleichzeitig behaupten die Liebe gefunden zu haben? Den Pfeil in der Brust steckend und doch lächelnd den staunenden Zaungästen zuwinken. „Denkst du nicht manchmal daran, deine Sehnsüchte woanders auszuleben? Ich hoffe, du verstehst es nicht als Aufforderung es zu tun, aber für mich klingt das nach Selbstgeißelung, die du praktizierst und die ist glaube ich alles andere als gut für Dein Seelenheil. Sag es ihm. Erzähl ihm von Deinem früheren Leben, von Deinen Ängsten und woher sie stammen. Selbst wenn ihm die Dominanz die Du Dir so sehr ersehnst nicht inne wohnt, darfst Du aus Liebe einfordern, was Du zum Fühlen brauchst.“
      Charlotte schließt die Mail und atmet tief durch. Der Einkauf muss rein, die Kinder müssen ins Bett, sie hat noch Arbeit aus dem Büro mit nach Hause genommen, die keinen weiteren Aufschub erlaubt. Und pinkeln muss sie auch. Sie steigt aus dem Wagen und der junge Nachbar grüßt sie wie immer mit dem gebührenden Respekt. Ganz so wie das Alphaweibchen ausstrahlt gegrüßt werden zu wollen. Alle parieren. Wie bescheuert. Halte durch, halte durch, halte durch, bleib nicht stehen. Sie geht weiter, grüßt und lächelt wohlwollend zurück, lässt sich sogar zu einem Zwinkern hinreißen. Ein weiterer Mann der sich vor meine Füße werfen will, denkt Charlotte noch im Vorübergehen, bevor sie Türe aufschließt und ihre Kinder zankend um das Uno Spiel vorfindet. Wunderbar, genau die lautstarke Ablenkung die sie braucht um das Rauschen in ihrem Kopf zu übertönen. Auf die drei ist Verlass.
      Nachdem sie das Uno Spiel konfisziert hat und alle damit beschäftigt sind, das während ihrer Abwesenheit angerichtete Chaos zu beseitigen, bereitet sie das Abendbrot vor und diktiert die restlichen fest eingeschliffenen Familienrituale bis zum Zubettgehen. Das ist für sie fast wie eine tägliche Autofahrt auf der immer gleichen Strecke. Am Ziel angekommen bemerkt sie, dass sie Strecke gar nicht wahrgenommen hat. Ein Zeitsprung. Kein Wunder, dass sie die Menschen in Ihrem Umfeld als ausgeglichen und ruhig wahrnehmen. Welche Ironie. Lachend stellt sie fest, dass sie eigentlich ihren Alltag nur im emotionalen Koma abarbeitet. Ihre Umwelt muss blind sein, dass nicht zu sehen. Verflixtes Brennen in den Augen. Vielleicht eine nahende Bindehautentzündung? „Wir waren immer ehrlich zueinander, soweit ich mich erinnern kann. Und ja auch ich habe deine submissive Seite nicht spüren können. Wie denn auch? Du bist eine Frau die Luft verdrängt, wenn sie einen Raum betritt und doch wusste ich immer um Deine Traurigkeit. Auch wenn ich nie wirklich fassen konnte woher sie rührt. Es muss furchtbar für dich sein, das Wissen in Dir zu tragen wer wirklich Du bist und dem einen Menschen den Du so sehr liebst eine Andere zu sein. Warum findest Du nicht die Kraft Deine Angst abzustreifen? Ich möchte nicht daran glauben, dass es für Euch keinen Weg gibt, auf dem Ihr gemeinsam Eure Sehnsüchte ausleben könnt. Wie unfair von Dir ihm nicht Chance zu geben Dich ganz und gar glücklich zu machen. Vielleicht glaubst Du selbst daran es nicht wert zu sein. Ich tue es aber. Und möchte der sein der Dich anfeuert es zu versuchen. Spring Charlotte, spring!“
      Charlotte fährt den Rechner hoch um die vor ihrem inneren Auge umherschwirrenden Zeilen ihres Freundes Bernhard zu überblenden. Doch so sehr sie auch versucht sich auf die Arbeit zu konzentrieren sie kann nicht. Ihr Mantra ist ein Anderes als „Spring Charlotte, spring!“. Wie war das nochmal? Halte durch… Oder so ähnlich. Da hört sie den Schlüssel in der Haustür und anders als sonst beschleunigt sich ihr Herzschlag bei diesem Geräusch. Sie kann überdeutlich hören wie Mats seine Schuhe in den Schuhschrank stellt und den Hund im Flur begrüßt, der wie immer schwanzwedelnd versucht dieses Unterfangen mit klassischem Im-Weg-Rumstehen zu unterbinden.„Hallo mein Engel.“ ruft Mats durch das Haus um auszumachen in welchem Raum sie sich gerade befindet. „Büro. Komme gleich. Flugkuss.“ ruft Charlotte und er schnappt es wie immer mit einem „Hab ich. Aber nass und live ist aber besser. Kommst Du runter?“ Nein, will sie schreien. Sie kann gerade noch nicht. Ihre innere Mauer hat gerade einen beschissenen Riss von einer beschissenen Abrissbirne in Form einer beschissenen Mail, die ein beschissener katholischer Freund geschrieben hat und der beschissene Mörtel zum provisorischen Flicken dieses Risses ist noch nicht fest genug. Arbeiten kann sie eh nicht mehr. Also fährt sie wieder den Rechner runter und macht sich auf den Weg zu ihrem Mann ins Wohnzimmer. Mats steht jedoch noch an der Treppe und schaut sie schon im herannahen skeptisch an. „Alles ok, mein Engel? Du siehst nicht gut aus. Hast Du geweint?“ Beschissene Abrissbirne. „Nein ich glaube das wird eine Bindehautentzündung oder sowas. Was weiß ich.“ „Ok, wenn Du meinst?“. So steht sie vor ihm. Und in diesem einem kurzen Moment, ihn von unten herauf betrachtend, mit seinem finsteren ungläubigen Blick in diesem engen Flur, formen sich die schon so lange an die Oberfläche drängenden Worte in ihr. „Ich bin sexuell devot und Masochistin. Kannst Du mich nicht sehen? Beschütze mich und tu mir weh. Damit ich mich wieder spüren kann. Ich will mich hinter Dir verstecken und mich von Dir tragen lassen. Ich bin nicht stark. Ich bin müde. Ich will mich Dir unterwerfen und Dir folgen dürfen. Ich habe mich so lange versteckt in einem trojanischen Pferd aus Stärke, Eloquenz und Effizienz. Die Luft ist stickig in meinem Pferd und ich möchte raus. Frag mich nicht mehr was ich tun möchte, sondern sag mir was ich tun soll. Du bist doch meine Liebe. Ich will Dir vertrauen lernen. Mein Herz schlägt schon lange nicht mehr im richtigen Takt. Hier übernimm Du das Ruder und mach. Das bin ich wirklich und war es auch schon immer. Ich will nicht, dass Du mir grobe Gewalt an tust und mich seelisch folterst. Das habe ich schon vor Dir hinter mir. Und ja, ich habe Angst. Zerbrich mich nicht, bitte. Und glaube mir das wäre ein leichtes für Dich. Ich biete mich Dir an. Willst Du mich besitzen. Ich meine so ganz und gar?“ Charlotte nimmt diese Worte formt sie zu einem festen Ball in ihrem Kopf, würgt sie in ihren Hals und schluckt sie hart runter. Alles wie immer. Mit dem Pfeil in der Brust…lächelnd.
      saßen sie dann alle beim Abendbrot - sprachlos, problemlos, glücklich?

      Wer etwas zu sagen hat, sollte sprechen.

      Wer nichts sagt, sollte sich nicht wundern, wenn nichts passiert.

      Wer Wünsche hat, sollte sie aussprechen, wie sonst könnte eine liebende Umgebeung diese aufnehmen und sich um ihre Erfüllung bemühen?

      Wer seine Gefühle verbirgt, darf sich nicht wundern, wenn die anderen sie nicht bemerken.

      Freundliche Grüße,
      Christoph
      Vielen Dank für euren netten Worte. Für mich ist es dss Größte, wenn meine Texte auch nur einen Einzigen berühren. Und ja es geht weiter. Das ist nur ein Auszug aus einer längeren Geschichte ohne happy end für die Protagonistin. Vielleicht tüftele ich daraus noch einen Auszug.

      Sonnige Grüße /creamwhite