Neunzehn Uhr

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      Neunzehn Uhr

      Das Ziffernblatt des Vintageweckers schaltet mit einem deutlichen Klacken um: Achtzehn Uhr sechsundfünfzig. Zophia hängt ihre Bluse samt BH an die Garderobe und kniet sich mit einer flüssigen Bewegung auf den Boden. Ein Lächeln umspielt ihre Lippen. Endlich ist es wieder so weit. Noch ist es ein wenig zu früh, doch sie kostet den kurzen Moment der Ruhe so gerne aus. Tief einatmen, kurz anhalten, und lange ausatmen. Klack, achtzehn Uhr siebenundfünfzig. Die Augen geschlossen ruht sie in sich, die Hände entspannt auf den Oberschenkeln. Ihr fällt auf, wie mühelos sie mittlerweile in aufrechter Haltung sitzen kann. So viel hat sich verändert, seit sie die Notiz unter ihrem Türspalt fand.

      "Geschieht dies wirklich?" war der Gedankengang, den sie seither nahezu täglich ging. Achtzehn Uhr achtundfünfzig, klackt der Wecker. Sie spürt, wie ihr Wärme in die Wangen schoss und konzentriert sich darauf, wieder langsamer zu atmen. In diesen Momenten, wenn der Tag an ihr abfällt und nichts von Bedeutung ist, da erinnert sie sich gern an die Anfänge. An dem Tag, als sie die Notiz im Flur fand, war sie bestenfalls amüsiert und zog es nicht im Entferntesten in Betracht, sich mit freiem Oberkörper und angelehnter Haustür in den Flur zu setzen. Wer kommt auf eine derart absurde Idee? Achtzehn Uhr neunundfünfzig.

      Genau das war die Uhrzeit, in der sie sich damals spontan umentschied - warum, kann sie bis heute nicht beantworten. Am zweiten Tag war es sogar noch knapper, und um ein Haar hätte sie die Tür zugelassen. Die Notiz war hier eindeutig - nur wenn sie jedes Detail ganz präzise so umsetze wie angeordnet, würde er am nächsten Tag wiederkommen. Sie hatte die Freiheit, dieses ungebührliche und verrückte Ritual jederzeit zu beenden. Ihr Blick fällt auf den Wecker. In diesem Moment fallen drei Ziffernblätter wie in Zeitlupe: Neunzehn Uhr. Sie schließt die Augen und senkt demütig den Kopf.
      Hinter sich vernimmt sie das leise Quietschen der Haustür, die sich jeden Tag zur selben Zeit öffnet. Seine Präzision jagt ihr einen wohligen Schauer über den Rücken. Sie spürt förmlich, wie ruhig er in ihre Wohnung schreitet und die Tür hinter sich schließt. Seine Präsenz scheint den Raum zu füllen, während sie seinen dezenten Geruch einatmet. Geschieht dies wirklich? Sie bemerkt die Aufregung in sich aufsteigen - oder ist es Vorfreude? Sechsundfünfzig Tage, und doch fühlt sie keinerlei Eintönigkeit. Routine ja, die hat sich eingestellt und gibt ihr Sicherheit. Doch dieser Moment des Innehaltens ist stets mit Spannung erfüllt. Nun denn.. Sie atmet tief und überdeutlich ein.

      Der erste Schlag überrascht sie immer wieder. Es muss sich um eine Art Lederpeitsche mit vielen, schweren und recht langen Riemen handeln. Es tut nicht sehr weh; die Sensation ist vielmehr die übertragene Kraft, die sie erschauern lässt. Die zärtliche Gewalt, die er ihr antut. Wenngleich sie zu absoluter Stille bemüht ist, entweicht ihr ein leises Stöhnen. Eins.

      Sie atmet tief ein und erlaubt ihrer Welt, sich nur mit diesem Gefühl ausfüllen. Nach einem kurzen Moment des Innehaltens entlässt sie ihren Atem langsam, genießt ihr Sein und dass sie jetzt gerade nichts tun muss, nichts fühlen muss und einfach nur hier sitzen darf. Der zweite Atemzug holt sie wieder in das Hier und Jetzt zurück; beim Ausatmen surrt die Luft wieder, kurz bevor zwanzig lederne Bänder auf ihrem Rücken einschlagen. Zwei. Immer derselbe Rhythmus: zweimal Atmen, ein Hieb. Es fühlt sich wie ein inniger Tanz an.

      Ihre Beckenbodenmuskeln zucken, sie keucht leise. Drei. Für viele Jahre wusste sie nicht einmal mehr, wie man Libido schreibt. Dieser Mann würde sie nicht einmal berühren, und doch wird sie den Rest des Abends fliegen. Vier. Gott, wie sehr sie sich nach mehr sehnt. Könnte er nicht hinter sie schreiten und einfach seine Hand um ihren Hals legen? Fünf. Oder wenigstens länger bleiben? Sechs. Ein Wort sagen?
      Seit über fünfzig Tagen erwacht sie jeden Morgen in der Hoffnung, eine neue Notiz unter der Tür zu finden. Neue Anweisungen, etwas mehr. Etwas länger. Sieben. Sie hatte nicht mehr als diese wenigen Minuten des Tages mit ihm, doch drehte sich ihr Leben mittlerweile vollständig darum. Sie wechselte in die Frühschicht, um Nachmittags genügend Zeit zu haben und keinesfalls zu riskieren, dass er unzufrieden sei und nicht wieder käme. Sie wäscht sich nachmittags die Haare, föhnt sie, nur für ihn. Sucht sich Kleidung für diesen Moment aus, durchlebt ihn in Tagträumen. Acht.

      Täglich nimmt sie den kleinen Zettel in die Hand, der ihr Leben so sehr verändert hat. Sie betrachtet ihn erneut, wenngleich sie jedes Detail unauslöschlich im Kopf hat. Neun. Simple Anweisungen, klare Konsequenzen, keine Ausschmückung. Kein Name. Nur ein merkwürdiges Detail verrät Persönlichkeit: Keine Ziffern. "Sei um neunzehn Uhr bereit" war ausgeschrieben. Eine Eigenart, die sie unbemerkt in ihr Denken übernommen hatte. Zehn.

      Der letzte Atemstoß kam einem lustvollen Stöhnen gleich. Ihr Körper verlangte nach mehr - viel mehr, doch gleichzeitig empfand sie tiefen Frieden und Ruhe. Ja, er würde nun gehen und die Tür hinter sich schließen. Das war in Ordnung, denn er kann mit ihr verfahren, wie es ihm beliebt. Sie bleibt noch ein paar Minuten sitzen, genießt das Kribbeln auf dem Rücken und die kühle Luft, die ihre Brüste umspielt. Schließlich fühlt sie sich von Kraft und Lebenswillen erfüllt und öffnet sie die Augen. Der Wecker steht auf neunzehn Uhr siebzehn.