Dieses eine Wort

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      Dieses eine Wort

      DIESES EINE WORT

      Vor beinahe vierundzwanzig Stunden war sie bei Schneegestöber aus dem Zug ausgestiegen, zwischen die anderen Menschen in ihren Winterjacken gespült worden, unsicher über das, was da kommen mochte. Zwischen all diesen anderen Menschen hatte sie ihn entdeckt – schwarzer Mantel, schwarze Hose, dunkelgrüner Schal, die Hände in den Taschen vergraben, weil er keine Handschuhe trug bei der Kälte. Und ihr Herz hatte vor Aufregung, Angst, Unsicherheit, aber auch Vorfreude wie wild geschlagen.
      Sie hatten sich begrüßt und ganz flüchtig in den Arm genommen, wie die zwei Fremden, die sie nun einmal zu dem Zeitpunkt streng genommen gewesen waren – weil sich ein Handschlag zu förmlich und keine Begrüßung als zu unhöflich angefühlt hätte. Also eine Umarmung. Ein kurzer Eindruck davon, wie er roch, ihre kalte Nase an seinem warmen Hals, dort, wo der Schal ein kleinwenig Haut preisgab. Vergessen war der Geruch des Bahnhofs, zwischen all dem Frittierten der Imbissbuden und dem Ledergeruch der Handtaschenshops und den gebrannten Mandeln der Weihnachtsstände. Gebrannte Mandeln hatte er ihr gekauft, als sie durch den Bahnhof zu seinem Auto geschlendert waren. Sie hatte ihm die kleine Geschenktüte überreicht, die sie mitgebracht hatte, sorgsam abgedeckt mit Krepppapier. Er hatte sie mit einem Lächeln entgegengenommen, ohne hineinzuschauen.
      Das alles war nun beinahe vierundzwanzig Stunden her. Seitdem hatten sie sich kennen gelernt, waren durch den wirbelnden Puderzucker gelaufen, der durch das kahle Geäst der Bäume am Straßenrand geweht war, hatten dort an den Gesprächen angeknüpft, wo die Nachrichten und Telefonate geendet hatten, hatten gelacht und gemeinsam zu Abend gekocht, zwei Gläser Wein geteilt, auf dem Sofa gekuschelt, am Abend auf dem Balkon nach dem Mond gesucht und einige wilde Küsse ausgetauscht. Wie ein Teenagerpärchen, schoss es ihr in den Kopf, als sie nun vor der Balkontür auf seinem kuscheligen Teppich saß und gedankenverloren in die Dunkelheit der Nacht blickte. Denn weiter waren sie nicht gegangen. Er hatte sie sanft gebremst. Ihm war wichtig, dass sie ihm wirklich vertraute. Keine übereilten Schritte. Lieber ein wenig zu langsam als zu übereilt und hektisch. Das kannte und schätzte sie an ihm, doch es machte sie auch ein wenig unwillig. Sie wollte mehr.
      Also war sie an seiner Seite eingeschlafen, mit unbändiger Vorfreude auf den nächsten Tag. Zur Sicherheit hatte sie sich zwar ein Hotel in der Nähe gebucht – nur für den Fall, dass sie doch nicht bei ihm schlafen mochte – doch sie hatte sich so wohl gefühlt, dass es gar keine Frage gewesen war, dass sie selbstverständlich bei ihm schlief.
      Und den ganzen heutigen Tag hatte sie geduldig gewartet. Sehnsüchtig ihre Blicke über die ordentlich zusammengelegten Seile und die beinahe andächtig drapierten Spielzeuge wandern lassen, die sie in seinem Schlafzimmer erblickt hatte. Auf seinem Nachttisch hatte ihre Geschenktüte gestanden. Doch er hatte sie warten lassen. Sie waren gemeinsam einkaufen gegangen für das Abendessen, er hatte ihr mehr von der Stadt gezeigt, heute hatte die Wintersonne trotz ihrer spärlichen Wärme den Schnee des Vortags beinahe wieder verschwinden lassen. Bis jetzt, zum frühen Abend, hatte er sie warten lassen.
      Selbst ist die Frau, hatte sie sich also gedacht. Vielleicht brauchte er aktive Ermunterung von ihr. Also war sie, als sie gerade die Karaffe Wasser in der Küche wieder aufgefüllt und auf dem Wohnzimmertisch abgestellt hatte, lasziv auf ihn zugekommen, hatte sich die Haarnadel aus dem Dutt gezogen und sich auf seinen Schoß geräkelt, Beine gespreizt, Rücken durchgestreckt, dass sich ihm ihre Brüste keck entgegenreckten. Hatte damit nur ein müdes Lächeln seitens des Meisters aller Selbstbeherrschung als Antwort geerntet.
      „Spielst du mit mir?“, hatte sie in dem süßesten ihr möglichen Ton gesäuselt, die Haare adrett in den sorgsam tiefen Ausschnitt fallen lassend, Wimpernaufschlag und Blick von unten zu ihm hinauf. Entspannt hatte er sich zurückgelehnt.
      „Gern“, war die Antwort gewesen, „Wenn du mich nochmal mit der richtigen Anrede fragst.“
      Der liebliche Blick von unten war schnell einem ausgesprochen bösen Blick von unten gewichen. Sein müdes Lächeln hatte sich daraufhin in ein süffisantes verwandelt.
      „Du weißt, dass ich nicht einfach so irgendjemanden so anspreche! Das ist unser erstes Treffen!“
      „Und ich bin also irgendjemand für dich?“
      „Du weißt, dass ich das nicht ausspreche, wenn ich es nicht fühle!“
      „Damit habe ich kein Problem. Das finde ich sogar gut.“
      Und mehr sagte er nicht. Sie auch nicht. Sie blickte ihn aus funkelnden Augen an und schmollte nun auf seinem Schoß, bevor sie sich irgendwann betont elegant erhob – sie wollte ihm nochmal deutlich machen, was er soeben abgewiesen hatte – und sich herrisch zurück vor das Balkonfenster gesetzt hatte, mit dem Rücken zu ihm. Neben dem Fenster war die Heizung, die ihr wohlige Wärme entgegenschickte und sie kuschelte sich in sich selbst zusammen.
      Ihre Aufmüpfigkeit hatte ihn keine Spur aus der Ruhe gebracht. Stattdessen hatte er sich ernsthaft nach einigen Minuten ein Buch genommen und angefangen zu lesen. Als wäre sie gar nicht da! Sie hörte, wie er die Seiten leise umblätterte, manchmal das rechte Bein über das linke schlug und dann wieder das linke über das rechte.
      In ihr unterdes wechselten sich Empörung und Sexhunger ab. Hier bei ihm zu sitzen, machte sie wahnsinnig. Sie hatten über so vieles geschrieben, gesprochen, Fantasien, Tabus, Geschichten ausgetauscht. Dass sie nach beinahe vierundzwanzig Stunden noch Klamotten am Leib hatte, grenzte fast an eine Beleidigung. Auch wenn es zugegebenermaßen nicht viele Klamotten waren – sie hatte ihre große Freude daran gefunden, sein Lieblingsnegligé einzupacken und ganz ohne seine Aufforderung anzuziehen. Das vielversprechende Glitzern in seinen Augen hatte sie in falscher Sicherheit ob des schnellen Stillens ihres Hungers gewiegt. Was erwartete er, wie lang ihr Geduldsfaden war?
      Irgendwann drehte sie sich auf der Stelle zu ihm um und fragte ihn: „Willst du mich ernsthaft einfach so wieder fahren lassen morgen?“
      Er blickte von seinem Buch auf.
      „Willst du das denn?“
      „Ich glaube, ich habe dir eben gesagt, was ich will.“
      „Und ich glaube, ich habe dir eben gesagt, was ich hören will.“
      Dann senkte er den Blick wieder auf die Zeilen seines Buches.
      Arsch, schoss es ihr durch den Kopf, doch sie konnte sich glücklicherweise rechtzeitig auf die Zunge beißen. Sie drehte sich wieder zum Fenster um und dachte weiter nach. In ihrem Köpfchen marterten unablässig die Gedanken.
      Irgendwann wandte sie sich ihm abermals zu.
      „Bin ich dir wirklich so wenig wert?“
      „Nein“, antwortete er, ohne aufzusehen, „Du bist mir so viel wert.“ Wechselte wieder das Bein, das rechte auf das linke. Sie beobachtete ihn dabei.
      „So viel, dass du nicht einmal Sex mit mir hast?“, giftete sie.
      „So viel, dass ich dich für mehr als nur eine schnelle Nummer einlade“, nun hob er doch wieder den Blick, „Du isst bei mir, du schläfst bei mir, ich habe mir die letzten vierundzwanzig Stunden nur für dich Zeit genommen. Denkst du, das würde ich für jede tun?“
      Sie schwieg. Drehte sich wieder dem Fenster zu.
      „Und jetzt soll ich dir das so danken, oder wie?“, hörte sie sich sagen, spürte aber bereits, dass seine Worte ihr Misstrauen wieder besänftigt hatten.
      „Du sollst gar nichts. Du darfst. Es ist eine Einladung. Ich bin dir nicht böse, wenn du es nicht tust.“
      Eine Einladung. Sie war seiner Einladung bis hierher gefolgt. Saß jetzt auf dem Teppich vor seinem Balkonfenster. Hatte die Zeit bis hierher so sehr genossen. Knabberte nun an ihrem Stolz, der ihr dieses eine Wort verbat. Und fand es am Ende doch unfassbar anziehend, dass dieser Mann vor ihr nicht klein beigab. Sie wollte nicht. Und sie wollte doch.
      „Und du lässt mich morgen einfach wieder fahren, wen ich es nicht tue?“, hakte sie nochmal nach.„Was denkst du, was ich tun werde?“
      Er würde. Das war ihr klar.
      „Auch wenn ich dann nie wiederkomme?“
      „Du bist ein freier Mensch.“
      Ach zum Teufel – freier Mensch! Sie kam schwungvoll wieder auf die Beine, ging zu dem Geschenktütchen und griff gezielt die Klammern heraus, die darin waren. Damals hatte sie sich selbige auf seine Inspiration hin gekauft, damit herumexperimentiert und ihm davon berichtet. Mit einer dieser Klammern kehrte sie zu ihm zurück, setzte sich abermals auf seinen Schoß und damit ganz frech auch auf sein Buch und hielt ihm die Klammer vor die Nase.
      „Möchtest du mich nicht für meine Frechheiten bestrafen?“
      Er lächelte.
      „Oh, die Versuchung ist groß!“, gestand er, „Aber bisher hast du dich noch nicht entschieden, mir zu gehören. Also werde ich die Finger von dir lassen.“
      „Hab ich!“, konterte sie augenblicklich, vielleicht schneller, als ihr lieb war, als sie über diese Worte noch ein zweites Mal nachdachte. Ihm zu gehören war schon ein starker Begriff. Und genau dieses Zögern spürte er in ihr auf.
      „Hast du nicht. Sonst würdest du tun, was ich sage.“
      „Ich dachte, du willst keine willenlose Puppe!“
      „Oh, ich habe keinerlei Zweifel daran, dass du das allerletzte Wesen auf diesem Planeten bist, das man zu einer willenlosen Puppe machen könnte“, zufrieden betrachtete er ihr bockiges Gesicht.
      „Warum also soll ich das dann tun?“
      „Weil ich es will?“
      „Fick dich“, traute sie sich endlich ihm ins Gesicht zu fluchen und erwartete die erste Ohrfeige dafür. Oder, besser noch, dass er sie von ihrem Schoß warf und irgendeine Peitsche aus den Riegen seiner Spielzeuge nahm. Doch er legte nur die Stirn in Falten.
      „Aktuell sieht es so aus, als würde es darauf hinauslaufen, allerdings.“
      Sie schnaubte.
      „Komm, lass mich weiterlesen, bis du zu einer Entscheidung gelangt bist“, sanft schob er sie von seinen Knien und wenn sie ihm nicht zu Füßen fallen wollte – was im Übrigen das letzte war, was sie aktuell wollte (oder vielleicht auch doch nicht) – musste sie sich wieder auf die eigenen Beine stellen. Empört blickte sie ihn an, doch er las unbeirrt weiter. Oder tat jedenfalls so. Sein um die Mundwinkel zuckendes Lächeln verriet ihr, dass er inzwischen garantiert jeden Satz drei Mal lesen musste. Sie spürte, wie dieses Lächeln in Kombination mit dem Wissen um seine Kreativität Hitze in ihren Schoß schießen ließ.
      Nachdenklich und mit der festen Vornahme, ihren Willen zu bekommen, stemmte sie sich die Hände in die Hüften und betrachtete ihn eine Weile, während sie den nächsten Plan ausheckte. Und der kam ihr auch nach einer Weile. Betont unschuldig wandte sie sich um, schlenderte eine Weile vermeintlich ziellos durch den Raum und betrachtete die Auswahl an Peitschen, Knebeln, Seilen, Tüchern und Sexspielzeug, die sich bei ihm über die Jahre angesammelt hatte. Sie spürte zu ihrer allergrößten Zufriedenheit, dass er sie aus den Augenwinkeln beobachtete, während er so tat, als würde er unbeeindruckt weiterlesen.
      Seine Sammlung wagte sie nicht anzufassen, dazu hatte sie zu viel Respekt vor ihm. Doch schließlich ließ sie sich neben seinem Nachtschrank auf dem Boden nieder und angelte sich aus dem Geschenktütchen ihren Vibrator. Irgendwie hatte sie sich das alles anders vorgestellt. Ihm dieses Tütchen mit ihren intimen Toys auf dem Bahnhof zu reichen, während jeder dachte, sie würde ihm ein gewöhnliches Geschenk machen – Pralinen oder ein Deo oder einen Gutschein für irgendetwas Belangloses – hatte ihr das Gefühl gegeben, es bestünde ein für alle unsichtbares Band zwischen ihnen durch dieses süße kleine Geheimnis. Am Ende war es das Geschenk ihrer Lust, das sie ihm in die Hände gegeben hatte, vor den unwissenden Augen aller – und dieses Geschenk lehnte er nun schamlos ab, stellvertretend durch das unangerührte Geschenktütchen auf seinem Nachttisch, als wäre es tatsächlich nicht mehr als Pralinen, Deo oder ein Gutschein für irgendetwas Belangloses.
      Aber wenn er nicht wollte… dann musste sie halt für sich selbst sorgen.
      Ihre Hände verschwanden hinter seinem Bett, sodass er sie nicht mehr sehen konnte und sie schaltete den Vibrator an. Zu ihrer Enttäuschung reagierte er nicht. Also führte sie den Vibrator langsam zwischen ihre Beine. Sie hatte so etwas noch nie getan, aber es war irgendwie aufregend. Durch den zarten Stoff des Negligés erreichte sie die Vibration ausreichend, dass sie kurz tief durchatmen musste.
      Da endlich stand er auf. Er klappte das Buch zusammen, erhob sich und kam zu ihr heran. Rasch zog sie den Vibrator wieder zurück und sah ihm mit einer Mischung aus Spannung, Ängstlichkeit und Erregung entgegen. Brav wie ein Schulmädchen setzte sie sich auf die Bettkante und schenkte ihm wieder einen Engelsblick von unten herauf. Er blieb vor ihr stehen und sah mit schief gelegtem Kopf auf sie hinab. Dann streckte er ihr die Hand entgegen.
      „Na, gib schon her.“
      Breit grinsend reichte sie ihm den Vibrator, welchen er wieder ausschaltete. Dann legte er ihn in die Geschenktüte zurück, wo auch ihr restliches Spielzeug aufbewahrt war, nahm diese an sich und ging. Sie wartete irritiert, was geschehen würde. Aber es geschah nichts. Sie sah, wie er wieder ins Wohnzimmer abbog und sich wieder auf dem Sessel niederließ, um weiterzulesen. Da verstand sie und kam zurück.
      „Wo hast du meine Sachen hingebracht?“, zornig legte sie die Stirn in Falten.
      „An einen sicheren Ort vor dir.“
      „Das ist nicht dein Ernst!“
      „Mein voller Ernst.“
      „Das sind meine!“
      „Du bekommst sie morgen wieder, bevor du fährst.“
      Langsam spürte sie, wie ihr vor Trotz und Frustration die Tränen kamen. Dieser Mann zog die Sache wirklich durch und wies sie ab. Sechs Stunden war sie mit dem Zug zu ihm gefahren. Auch wenn sie gesagt hatten, dass sie sich die Kosten teilten, war der Betrag, der mit dem Hotel zusammenkam, nicht gerade gering. Und morgen würde sie also sechs Stunden wieder zurückfahren, um nach einem unerfüllten Wochenende desillusioniert in die neue Woche zu starten. All das Geschriebene, all die Fantasien, all die langen Telefonate – für nichts.
      Er bemerkte ihren Stimmungsumschwung und kam auf sie zu. Noch immer keine Spur von Zorn. Sanft packte er sie am Kinn und zwang sie, ihn anzusehen.
      „Mein kleines Hexchen. Es steht nichts zwischen dir und mir außer deinem Stolz und deiner Angst. Ich weiß, was du willst, und du weißt, dass ich dich will, sonst wärst du nicht hier. Am Ende liegt es in deinen Händen, ob du diesen Sprung über deinen Schatten wagst oder nicht, ich werde dich nicht drängen. Aber du wirst sagen, was ich hören will. Und du wirst tun, was ich dir sage. Das, was du dir wünscht, ist nur ein einziges Wort entfernt. Und ich weiß, dass es eine große innere Hürde für dich ist. Ich bin mir sehr wohl bewusst, wie schwer es dir dein Stolz macht, und ich werde dich angemessen belohnen, wenn du diesen großen Schritt für mich wagst.“
      Unwillkürlich schlug sie bei seinen Sätzen die Augen nieder. Sie spürte, wie seine Worte die Lust wiederbrachten, aber sie auch irgendwie beschämt zurückließen. Sie machten ihr klar, dass tatsächlich sie diejenige war, die einem gemeinsamen aufregenden Abend im Weg stand.
      „Ich weiß, dass du das kannst“, fügte er noch hinzu, „Sonst würde ich es nicht von dir verlangen. Es wird dir gut tun.“
      Und dann drehte er sich wieder um und setzte sich zurück in den Sessel, ohne dieses Mal zum Buch zu greifen.
      Seine letzten Worte blieben ihr im Kopf zurück. Es wird dir gut tun. Meinte er damit das Körperliche, mit dem er sie belohnen würde? Moment – er hatte gar nicht gesagt, dass er sie körperlich belohnen würde, er hatte nur „angemessen belohnen“ gesagt. Was also erwartete sie? Oder meinte er, dass es ihr psychisch gut tun würde? Aber wie sollte dieses eine Wort ihrer Psyche gut tun? Sie setzte sich im Schneidersitz wieder auf den Teppich vor dem Fenster, dieses Mal aber ihm zugewandt. Beobachtete ihn und dachte nach. Er erwiderte ihren Blick eine Weile. Ein dunkles, erotisches Funkeln lag in seinen Augen. Es machte sie sehr an, ihn nur zu sehen. Wie er dort saß, ganz entspannt, beide Arme auf die Lehnen gelegt. Die Ruhe selbst. Sie war hungrig auf ihn. Sehr hungrig. Es war nur dieses eine Wort, was sie trennte, dieses eine Wort. Sie biss sich auf die Lippen. Er griff wieder zu seinem Buch und schickte sich an, weiterzulesen, doch sie spürte, dass sie das nicht wollte, dass sie nicht wollte, dass sie wieder aus dem Kontakt gingen. Sie wollte, dass er sie so berührte wie eben am Kinn, dass er so mit ihr sprach wie eben: ruhig, klar, dominant.
      Also kam sie auf die Beine und näherte sich ihm wieder. Er regte sich nicht. Schließlich blieb sie direkt vor ihm stehen und blickte ihn erwartungsvoll an. Zu ihrem eigenen Erstaunen bemerkte sie, dass sie nicht ohne Aufforderung sprechen wollte.
      Er las den Absatz zu Ende, dann klappte er das Buch zu und sah zu ihr hoch.
      „Ja, bitte?“
      Sie stockte.
      „Ich…“, brachte sie hervor, kam jedoch nicht weiter. Er wartete geduldig, während sie ihren inneren Kampf austrug. Sie biss sich auf die Lippen. Es war so schwer! Warum war es so schwer?
      „Spielst du mit mir...“, fing sie an, doch das letzte Wort blieb ihr im Hals stecken. Fragend hoben sich seine Augenbrauen. Nervös leckte sie sich über die Lippen, trat unsicher von einem Bein auf das andere und starrte zu Boden.
      „Hexchen?“
      Sie blickte wieder auf.
      „Knie dich hin.“
      Mit großen Augen sah sie ihn an.
      „Was?!“
      „Du hast mich schon verstanden.“
      „Nein!“
      „Vertrau mir.“
      „Ich… nein! Auf keinen Fall!“
      Sie hörte ihn lachen und blickte ihn empört an.
      „Ich glaube, niemand hat sich selbst je mehr im Weg gestanden als du.“
      Dann wurde er wieder ernst.
      „Ich gehe jetzt kurz in die Küche und hole mir ein Glas Wein. Wenn ich wieder herkomme, möchte ich, dass du vor diesem Sessel kniest. Verstanden?“
      Sie schluckte. Zögerte kurz.
      „Na gut“, brachte sie dann leise über die Lippen, auch weil ihr klar war, dass sie nicht auch noch seine dritte Aufforderung ablehnen konnte. Er tat sein Bestes, um ihr zu helfen, das war ihr klar.
      Er wirkte zufrieden und stand auf. Ging um sie herum und ließ sie allein. Bis in die letzte Haarspitze angespannt stand sie vor dem leeren Sessel, auf dem er bis eben noch gesessen hatte. Sein Duft war wie eine unsichtbare Aura zurückgeblieben. Sie verfluchte sich innerlich selbst, weil es ihr so schwer fiel. Niemals im Leben hatte sie gedacht, dass es ihr so schwer fallen würde. Dieses eine Wort. Dieses eine kleine Wort. Es blieb ihr im Halse stecken, was sie auch tat.
      Sie vertrödelte die Zeit mit ihrer Selbstverfluchung, bis sie hörte, wie sich seine Schritte dem Wohnzimmer wieder näherten. Rasch, eh sie wirklich darüber nachdenken konnte, ließ sie sich auf die Knie sinken. Sie kannte die Nadu-Position und fragte sich, ob er erwartete, dass sie diese einnahm. Instinktiv öffnete sie ihre Knie leicht – nur leicht – und legte ihre geöffneten Hände darauf ab. Als wirklicher Nadu ging das vermutlich nicht durch.
      Sie hörte, wie er den Raum betrat.
      „Gut so“, erreichte seine sanfte Stimme sie, „Bleib genau so sitzen. Sieh zu Boden. Sieh nicht auf.“
      Sie gehorchte. Ihr Herz schlug ihr bis zum Halse, als er sich ihr Schritt um Schritt näherte. Plötzlich kroch ihr doch Angst den Nacken hoch. Sie wusste nicht, warum. Sie vertraute ihm, warum also fürchtete sie sich nun? Und doch, gleichsam mit der Furcht, spürte sie, wie es in ihr kribbelte. Wie das Kribbeln in ihrem Unterbauch mit jedem seiner bedachten Schritte zunahm. Ein Teil in ihr wollte es genießen, ein Teil in ihr fürchtete sich davor, sich hinzugeben – jener Teil, den sie sich und allen anderen als Stolz verkaufte.
      Auf einmal stand er schon neben ihr. Sie spürte, dass sie sich nach einem Griff in den Nacken sehnte. Doch dieser blieb aus. Stattdessen ging er zurück an seinen Platz und setzte sich wieder vor ihr auf den Sessel. Sie starrte auf seine Hosenbeine, die sich dadurch in ihr Blickfeld geschoben hatten. Nun kniete sie vor ihm. Als sie sich diesen Gedanken vergegenwärtigte, ging ein Schauer durch ihren Körper.
      „Fühl hin, Hexchen“, hörte sie ihn flüstern, „Spür nach, wie sich das anfühlt.“
      Jedes Wort von ihm brachte ihr Innerstes wieder zum Brennen. Es brachte sie halb um den Verstand, und die Angst verschwand, als sie in ihren Körper und in die Situation zurückkehrte und sich bewusst wurde, dass sie seit Monaten von diesem Moment geträumt hatte. Ganz vorsichtig ließ sie sich ein Stück nach vorn sinken und brachte ihre Stirn an sein Knie. Er ließ sie gewähren. Das half ihr, Mut zu fassen und sie schmiegte sich mit der Wange an ihn. Genoss diesen Augenblick, ihm zu Füßen zu sitzen, atmete mit jedem Atemzug, wie gut es ihr tat, wie sehr es ihre Sehnsucht nach mehr weckte.
      „Sieh mich an“, hörte sie ihn sagen und sie hob langsam den Blick, um ihn aus ihrer knienden Position her anzusehen.
      „Möchtest du mich vielleicht etwas fragen?“
      Und dann, auf einmal, war es gar nicht mehr so schwer. Sie holte tief Luft, sammelte sich, kämpfte die letzten Reste falschen Stolzes nieder. Dann hörte sie es sich selber fragen:
      „Spielst du mit mir… Herr?“
      In dem Moment, in dem sie es sagte, spürte sie, wie eine große Last von ihr abfiel. Erleichterung machte sich in ihr breit, so sehr, dass ihr fast die Tränen kamen. Und als sie in sein Gesicht blickte und diesen tiefen, liebevollen Stolz sah, musste sie tatsächlich weinen.
      „Gute Tränen?“, fragte er und sie nickte heftig.
      „Sehr gut, Hexchen. Ich bin stolz auf dich. Und ich spiele gern mit dir.“
      Er erhob sich und ging wieder um sie herum, um kurz im Schlafzimmer zu verschwinden. Sie nutzte die Zeit, um zwei, drei Mal die gelöste Last hinauszuschluchzen und sich dann wieder rasch mit dem Handrücken die Wangen trockenzutupfen. Zurück blieb das Gefühl, freier atmen zu können, und sie spürte, wie viel Angst tatsächlich hinter diesem einen Wort gestanden hatte. Er hatte Recht gehabt. Es hatte ihr gut getan. Warum auch immer. Doch es war das erste Mal, dass sie es nicht zynisch, lapidar oder scherzhaft zu einem Mann gesagt hatte. Dieses eine Wort: Herr.
      Er kam zurück und sie sammelte sich wieder. Abermals setzte er sich vor sie und hielt ihr ein doppelt gefasstes Seil entgegen. Sie verstand die Aufforderung. Ganz zaghaft legte sie ihre Handgelenke auf das Seil und er schlang selbiges zwei Mal sauber um diese herum, um es dann ordentlich zu verknoten und festzuziehen. Nun waren ihre Hände gefesselt.
      Er zupfte sie an dem freien Seilende wieder auf die Beine und erhob sich mit ihr. Wie an der Leine führte er sie hinter sich her, und als er sie in das Schlafzimmer lotste, begann ihr Herz wieder wild zu pochen. Er führte sie bis in die Mitte des Raumes, wo in der Decke ein Haken eingelassen war. Dort führte er das Seilende hindurch und zog ihre Arme so hoch, dass sie beinahe auf Zehenspitzen stehen musste, ehe er es befestigte. Er entfernte sich aus ihrem Blickfeld und sie hörte, wie er kurz in einen anderen Raum ging, bevor er zurückkam und die Schlafzimmertür ins Schloss fiel. Dann war er hinter ihr, sie spürte seine Präsenz noch bevor sein warmer Atem ihr Ohr erreichte und seine Worte ihr Blut in Wallung brachten.
      „So, kleines Hexchen. Jetzt bist du mein.“
      Ihr Vibrator in seinen Händen begann leise zu summen. Und sie schloss die Augen und ließ sich fallen.
      Von dieser schönen Geschichte gibt es nun auch die Hörversion, ihr findet sie hier: Dieses eine Wort

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      Liebe Nachbarn, Freunde, Bekannte, Arbeitskollegen, Familie: Ich bin entsetzt, auf was für Seiten ihr euch rumtreibt! :frech:

      Lernen durch Schmerz ist nicht angenehm, aber unglaublich effektiv... :evilfire: