10.12.2023 ✷ Die größte Sünde

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      10.12.2023 ✷ Die größte Sünde

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      ✵ 10. Dezember ✵

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      Die größte Sünde

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      von anonym

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      Sie schnappte sich die Einkaufstüte, warf sich die Kapuze über den Kopf und verließ ohne einen Abschiedsgruß fluchtartig den Laden. Sie hasste Weihnachten! Als sie eilig durch die Straßen des kleinen Kaffs huschte, in dem jeder Anwohner sich in einem Lichterfeuerwerk überbot, wurde ihr mal wieder bewusst, wie sehr sie Weihnachten hasste. Nicht nur wegen der vollen Einkaufsläden an den Samstagabenden. Das war, zugegeben, in einem erzkatholischen Dorf in Rheinhessen nicht gerade der günstigste Standpunkt. Dass sie sonntags nicht in die Kirche ging, war sofort aufgefallen. Man wandte sich auf den Straßen von ihr ab. Im kleinen Dorfladen bediente man sie nur widerwillig, und meistens taten die Verkäuferinnen, wenn sie nach einem Produkt fragte, als hörten sie sie nicht. Ja, manchmal hatte sie sogar den Eindruck, die örtliche Post verschluderte absichtlich ihre Pakete und Briefe, denn es kam erstaunlich häufig vor, dass ihre Sendungen für ihre Patenkinder nicht ankamen.

      Kinder. Das war ohnehin so ein Ding. Als dreißigjährige Frau hatte sie eigentlich Kinder zu haben. Hatte sie aber nicht. Sie hatte nicht einmal einen Mann. Sie hatte mal einen gehabt, ja. Also, nicht verheiratet, was das nächste Unding gewesen war. Eine „wilde Ehe“ mit einem freigeistigen, leidenschaftlichen, sie über alle vorstellbaren Grenzen hinaus liebenden wilden Mann, der sie in den Genuss der Devotion eingeführt hatte (was hier, wo die Missionarsstellung zum Zeugen von Kindern gerade einmal gebilligt war, selbstverständlich keiner wusste!). Sie hatten sich in Hamburg, wo sie geboren und aufgewachsen war, auf einem Kongress kennengelernt. Liebe auf den ersten Blick. Sie war zweiundzwanzig, er fünfundzwanzig gewesen. Und die Begegnung mit ihm hatte sie aus einem hastigen, frigiden und arbeitszentrierten Leben in eine Welt multipler Orgasmen hineinkatapultiert. An ihn hatte sie damals ihre Jungfräulichkeit verloren. Nach einem Jahr, mit dem Ende ihres Studiums, war sie zu ihm gezogen – hier, nach Rheinhessen, seine Wahlheimat. Wegen der Berge und des hervorragenden Weines. Und ihre Liebe zueinander war gewachsen, mit jedem gehauchten „Ja, Herr“ mehr. Seinen Gottesglauben hatte sie zwar nie geteilt. Aber er hatte dann immer nur verschmitzt gelächelt und gesagt: „Das ist okay, Gott liebt dich trotzdem. Aber nicht so sehr wie ich!“ Und dann hatte er sie an den Hüften gepackt, hochgehoben und einmal herumgewirbelt. Das erste Mal im Leben hatte sie das Gefühl gehabt, wirklich angekommen zu sein.

      Bis zum Tag seines Unfalls. Auf dem Rückweg von der Arbeit hatte ihn ein LKW-Fahrer beim Abbiegen übersehen. Die untergehende Dezembersonne hatte den Fahrer geblendet, sodass ihm das Motorrad entgangen war. Er hatte ihrem Liebsten die Vorfahrt genommen. Da hatte sie das erste Mal gebetet. Sie hatte gebetet und zu Gott gefleht, endlich bereit, an ihn zu glauben. Es hatte nichts genützt. Fünf Tage nach dem Unfall war ihr Liebster an den Folgen seiner Verletzungen im Krankenhaus gestorben. Das war der 10. Dezember vor vier Jahren gewesen. Und seitdem hasste sie Weihnachten. Und die Religion allgemein noch mehr.

      Sie kam an ihrer Wohnung an. Diese war leicht zu erkennen: Es war das einzige Haus in der ganzen Straße – ach was, im ganzen Dorf – das keinerlei Weihnachtsbeleuchtung hatte. Sie ging hinein, verstaute die gekauften Lebensmittel und ließ sich anschließend in den Sessel im Wohnzimmer fallen, in dem häufig er gesessen hatte, sie nackt und glücklich zu seinen Füßen. Das war seit vier Jahren vorbei. Morgen, am zweiten Advent, jährte sich sein Tod zum vierten Mal.

      Sie holte sich Wein aus dem Schrank. Schüttete sich ein und trank. Der Wein benebelte ihren Kopf und tat ihr nach der anstrengenden Arbeit gut. Sie war zurückgekehrt in ihr altes, arbeitsames Leben. Eine halbe Stunde entfernt, in der nächsten Großstadt, war sie Dozentin an der Uni für Plasmaphysik. Bedauerlicherweise hatte sie ihre wichtigste Karrierezeit im wahrsten Sinne des Wortes verschlafen – mit ihm. Anstatt Fachartikel zu schreiben und ihre Karriere als junge Doktorandin voranzutreiben, hatte sie ihm in leidenschaftlichen Verschmelzungen rote Striemen ihrer Fingernägel auf dem Rücken hinterlassen – die einzige Ader, bei der man ihm wohl etwas Masochismus hatte unterstellen können. Aber ihre Promotion hatte im Endeffekt zu lange gedauert, um nun sinnvoll daran anzuknüpfen.

      Nun war sie hier. Alleine in einem erzkatholischen Dorf. Die wandelnde Sünde. Die perfekte Kandidatin für die Hölle. Sie trank noch ein Glas. Und später noch eines. Ließ die Zeit verstreichen, während sie über ihr verschwendetes, einsames Leben sinnierte. Und wartete. Irgendwann schlug die Uhr schließlich Mitternacht. Sonntagnacht. Jetzt war es genau vier Jahre her. Sie seufzte und zündete die zwei Kerzen auf dem Adventskranz an, den er ihr hinterlassen hatte. „Fröhlichen zweiten Advent“, murmelte sie sarkastisch in die Stille hinein. In einer ungelenken, angetrunkenen Bewegung stieß sie gegen die Flasche auf dem kleinen Beistelltisch, der neben dem Sessel stand. Die Weinflasche kippte um und ihr ganzer restlicher Inhalt lief rot über die Tischplatte und auf den Teppich.

      „Aaaach, GOTTVERDAMMT!“, fluchte sie und sprang erschrocken auf. Sie torkelte in die Küche und holte sich einen feuchten Lappen und eine Küchenrolle, um schnell zu retten, was noch zu retten war. Sie wischte die Plörre auf, aber aus dem Teppich würde sie die Flecken wohl nicht mehr herausbekommen. Der Wein war auch in die Ritzen der Schublade, die der Beistelltisch hatte, gelaufen. Als sie diese aufzog, um auch dort die Reste des Weins zu entfernen, erstarrte sie. In der Schublade lag seine Bibel. Die rote Flüssigkeit war gerade dabei, von den dünnen, durstigen Seiten aufgesogen zu werden und die angetrunkene Frau starrte einfach nur auf das dicke kleine Buch. Scheinbar hatte sie vier Jahre lang nicht in diese Schublade geschaut.

      Vorsichtig nahm sie die Bibel schließlich in die Hand. Sie fühlte sich an, als sei sie tonnenschwer. Tonnenschwer mit den Erinnerungen beladen, wie er manchmal in dem Sessel gesessen und in der Bibel geblättert hatte. Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen. Dann, bevor sie es kontrollieren konnte, stieg schon der erste Schluchzer ihre Kehle hinauf. Und schließlich weinte sie ungehemmt. „Gott!“, schrie sie. „Du elender Lügner! Du hast mir alles genommen! Alles, was ich je hatte! Ich hasse dich!“ Und dann weinte sie, bis sie nicht mehr konnte.
      Als es an der Tür klingelte, fuhr sie hoch. Sie musste eingedöst sein. In der einen Hand hielt sie noch den weingetränkten Lappen, der andere Arm war ihr eingeschlafen, weil sie ihn auf der Sitzfläche des Sessels, vor dem sie hockte, abgelegt und ihren Kopf darauf gebettet hatte. Die Finger kribbelten unangenehm, als das Blut wieder in sie schoss. Wie spät war es wohl? Sie hatte keine Ahnung – in ihrem Wohnzimmer hing keine Uhr. Wer klingelte denn mitten in der Nacht? Einen kurzen Augenblick überlegte sie, ob sie nur geträumt hatte. Denn dass bei ihr jemand klingelte, war, soweit sie sich entsinnen konnte, das letzte Mal zu Kondolenzwünschen nach der Trauerfeier gewesen. Und es klingelte auch kein zweites Mal. Allerdings raffte sie sich dann doch auf, um nachzusehen. Sie war immer noch ganz schön angetrunken, stellte sie fest.

      Sie riss die Tür auf und blickte zunächst nur in den Schneesturm, der sich in den letzten Stunden aufgebaut hatte. Dann senkte sie den Blick und schaute auf einen kleinen, alten Mann am Krückstock, der ihr eine leere Mütze entgegenhielt. „Entschuldigen Sie bitte vielmals die Störung…“, krächzte seine schwache Stimme, die sie im Dezemberwind kaum verstehen konnte, „… aber bitte, im Namen des Allgnädigen Herrn, gibt es wohl etwas, was Sie mit mir teilen könnten? Es ist der zweite Advent und ich habe nichts zu essen und nichts Warmes anzuziehen. Ich schlafe unter der Brücke und weiß nicht, wie lange ich bei diesem Sturm die Kälte noch überlebe.“

      In der Tat war der Mantel, den er trug, schon sehr abgetragen und mit Löchern übersät. Ein zerfledderter Weihnachtspullover blitzte durch den fehlenden Stoff hervor. Sie starrte ihn an. „Ich habe nichts“, brachte sie schroff über die Lippen und war schon im Begriff, die Tür wieder zuzuschlagen. Doch dann hielt sie inne und seufzte. Gott sorgte mal wieder hervorragend für seine Schäfchen… nicht!

      Sie öffnete die Tür wieder und blickte skeptisch auf den kleinen, faltigen Mann vor ihr. War er wirklich arm und auch kein Betrüger? Sie hatte ihn noch nie unter den Brücken hier gesehen. Das Dorf war nicht gerade groß, man kannte irgendwann jedes Gesicht. „Danke, Fräulein, dass Sie mich anhören“, wisperte seine dünne Stimme weiter. „Ich möchte auch kein Geld, nur haben Sie etwas Warmes zu essen oder anzuziehen für mich? Oder vielleicht ein Lager für die Nacht, bis der Sturm vorüber ist? Ich werde Ihnen auch gewiss nicht zur Last fallen.“

      Sie verengte die Augen, während ihr Kopf für eine kleine Ewigkeit das Risiko abwog, einem gefährlichen Verbrecher zum Opfer zu fallen. Mach dich nicht lächerlich!, schalt sie sich. Er ist ein alter Mann, er kann kaum stehen! Wie soll er dich da überfallen? Ein Frösteln überzog sie langsam, weil der kalte Wind ihr in die Klamotten fuhr. Wie musste es ihm wohl ergehen? „Ähm“, stammelte sie, „kommen Sie erstmal rein, das ist ja kein Zustand hier.“ Und sie machte ihm Platz und ließ den kleinen Mann eintreten.

      „Vielen, vielen Dank!“, knickste dieser und humpelte an ihr vorbei. Sie sah ihm nach. Arme Kreatur. So gottverlassen wie sie auch. Sie führte ihn ins Wohnzimmer. „Entschuldigen Sie bitte“, sie errötete, als der alte Mann auf das Weinchaos blickte, das sie am Sessel hinterlassen hatte – Unmengen an mit roter Flüssigkeit vollgesogenen Küchentüchern. „Mir ist vorhin eine Flasche Wein umgefallen.“ Ohne darüber nachzudenken half sie ihm aus dem Mantel, wie sie es auch damals stets mit ihrem Herrn getan hatte und hängte das Kleidungsstück an der Garderobe auf. Dann hastete sie zu dem Chaos und sammelte es schnell zusammen.

      „Bitte“, bot sie an, „setzen Sie sich doch eben schon mal, wenn es Ihnen nicht unangenehm ist. Darf ich Ihnen sonst etwas Warmes bringen? Kaffee? Tee? Einen Kakao?“ „Oh, vielen Dank!“, er watschelte hinüber zum Sessel und ließ sich sichtlich erleichtert darauf sinken. „Ein Glas Wein wäre doch hervorragend bei der Kälte da draußen.“ Sie warf ihm einen schrägen Blick zu und fragte sich, ob er wohl alkoholkrank war, wie viele Obdachlose. Und ob es eine gute Idee war, eine mögliche Abhängigkeit zu unterstützen.

      „Ich habe keinen Wein mehr“, log sie. „Oh. Nicht schlimm. Dann doch gern einen Tee. Pfefferminz?“ „Gern.“ Erleichtert verschwand sie in der Küche, um Teewasser aufzusetzen. Inzwischen war sie von der frischen Brise, die ihr an der Tür ins Gesicht geweht war, etwas klarer im Kopf. Was sollte sie denn jetzt machen? Jetzt hatte sie diesen alten Mann hier in der Wohnung! Was hatte sie sich nur dabei gedacht?! Fieberhaft überlegte sie, ob sie ihn unter Ausreden wieder vor die Tür setzen sollte, vielleicht mit etwas warmem Auflauf, den sie noch von gestern hatte. Aber irgendwie kam ihr das grausam vor. Er konnte doch genauso gut eine Nacht bei ihr schlafen. Sie übernachtete ohnehin seit einer Weile nur noch im Arbeitszimmer auf der Schlafcouch, da konnte sie ihm auch genauso gut das Ehebett in ihrem Schlafzimmer überlassen. Der wohl einzige Mann, den das Bett je wieder sehen würde, auch wenn dieser weit über seine besten Jahre hinaus war. Und das Arbeitszimmer konnte sie auch von innen abschließen. Nur sicherheitshalber.

      Sie wartete, bis das Wasser warm war und zupfte einen Beutel Pfefferminztee aus dem obersten Fach im Schrank. Tee war eher eine Sache für ihren Liebsten gewesen; seit seinem Tod hatte sie diesen auch nicht mehr angerührt und hoffte, dass der Inhalt noch gut war. Skeptisch roch sie daran, aber es schien alles unauffällig zu sein. Dann kehrte sie eilig ins Wohnzimmer zurück.

      Mit einem lauten Scheppern zerbrach die Tasse und zum zweiten Mal in dieser Nacht lief Flüssigkeit über den Wohnzimmerboden. Für einen kurzen Augenblick glaubte sie, ohnmächtig zu werden. Es gelang ihr gerade mal, sich auf der Kommode neben der Tür abzustützen, um irgendwie Halt zu finden. Fassungslos blickte sie auf den Mann, der vor ihr im Sessel saß. Der alte Mann war verschwunden. Sein Gehstock auch. Was sich ihr stattdessen bot, war der Anblick eines berauschend schönen Mannes Mitte dreißig, der ihr aus einem Gesicht entgegenblickte, das sie in seiner Ebenmäßigkeit fast überwältigte. Doch als wenn das nicht genug war – plötzlich ein fremder Mann anstelle des alten Bettlers – war das, was sie noch mehr aus der Fassung brachte, das warme Licht, das seinen gesamten Körper umgab. Er schien von innen her zu strahlen. Reflexartig fasste sie sich an die Stirn, um zu überprüfen, ob sie vielleicht hohes Fieber hatte. Ihr Gesicht glühte tatsächlich, allerdings vom Alkohol. Sie musste noch zu betrunken sein, das war's! Hatte sie es so übertrieben? Stand es so schlimm um sie? Noch nie hatte sie Halluzinationen gehabt von einer halben Flasche Wein!

      Der Mann erhob sich aus dem Sessel mit einer Geschmeidigkeit, von der ihr schwindelig wurde.
      „W-w-wer sind Sie? Was sind Sie?“, stammelte sie und war von dem Strahlen wie gebannt.
      „Was immer du möchtest, was ich bin“, antwortete der Fremde.
      „Bist du… äh… bist du so eine Art Engel oder sowas?“
      „Wenn du mich so sehen möchtest, dann kann ich das gern für dich sein. Nur fürchte dich nicht, ich werde dir kein Leid zufügen. Ich bin lediglich dem Ruf deiner reinen Seele gefolgt.“
      „Meiner reinen… was?“, sie prustete hysterisch los. Ja, wahrlich, sie halluzinierte! Es war wohl an der Zeit, dass sie sich mal fachliche Hilfe holte, ihr Alkoholkonsum hatte alle guten Grenzen überschritten. Das begriff sie in diesem Moment.
      „Nun, das ist richtig“, sagte der Fremde, der für sie ein Engel war.
      „Was ist richtig?“
      „Dass dein Alkoholkonsum alle guten Grenzen überschritten hat. Und das schon länger.“
      Sie starrte ihn an und hörte sofort auf zu lachen.
      „Du kannst Gedanken lesen“, flüsterte sie.
      „Keiner deiner Gedanken ist mir unbekannt.“
      „Das muss ein Albtraum sein“, resümierte sie leise für sich.
      „Du erwachst gerade daraus“, erwiderte der Engel.
      Sie blickte ihn mit offenem Mund an, gebannt von seiner übermenschlichen Schönheit. Das Strahlen zog sie wie magisch an. Der Frieden, der in seinen Augen lag, überwältigte sie. Und plötzlich überkam es sie: Sie rannte los, warf sich vor ihm nieder auf die Knie, weinte und bat um Vergebung für all das, was Menschen ihr als Sünden angekreidet hatten. Sie beichtete ihm alles: von dem Schulbrot, das sie in der vierten Klasse dem unliebsamen Außenseiter geklaut hatte über die Spickzettel in der Klausur für theoretische Physik bis hin zu den verpassten sonntäglichen Kirchenbesuchen und ihrer unsittlich verlorenen Jungfräulichkeit. Doch der Engel unterbrach sie mitten in ihrer Beichte.

      „Schweig still!“ Seine herrische Stimme ließ sie zusammenzucken und sie blickte schüchtern von unten zu ihm auf. Wie lang hatte sie nicht mehr in dieser Position… vor einem Mann… Sie errötete und senkte sofort den Blick, weil dieses reine Wesen schließlich jeden Gedanken lesen konnte. „Wofür schämst du dich?“, fragte der Engel. „Ich…“, stotterte sie, „es tut mir leid… es ist nur… ich bin so… sündig.“ Der Engel hockte sich vor ihr nieder und packte sie am Kinn, um sie sanft dazu zu bringen, ihn anzusehen. „Das bist du in der Tat, aber nicht auf die Art und Weise, wie du denkst.“

      Sie verstand nicht, was er meinte und er fuhr fort, weil er es wusste. „Denkst du ernsthaft, das Universum schert sich um das Pausenbrot oder die Spickzettel? Meinst du, die Geheimnisse des Lebens lassen sich nur sonntags in einer Kirche bei Predigten aus alten Büchern erfahren? Und in einem Punkt irrst du dich am allermeisten: Niemand verurteilt dich für deine unsittlich verlorene Jungfräulichkeit – im Gegenteil: Feiere dich dafür! Und weißt du auch, warum du dich feiern solltest?“ Sie wusste es nicht, und er wusste es. „Weil du zu dieser Zeit das erste Mal gelebt hast, kleine Sub. Du hast das Leben gefeiert, und damit hast du das größte Geschenk gefeiert. Mit jedem Orgasmus bist du in Sphären gelangt, die jenseits dieser kleinen menschlichen Welt liegen, erinnerst du dich?“

      Sie wurde erst blass und dann errötete sie wieder.
      „Aber ich… ich habe Dinge getan… die…“
      „Ja?“, der Engel erhob sich wieder und zog sie im gleichen Zuge sanft auf die Beine.
      „Ich meine, das war nicht…“, stotterte sie weiter, „… ich habe… also, das war…“
      „Dreh dich um“, befahl der Engel ihr plötzlich, als ihr die Worte versagten. Hastig, wie automatisiert, gehorchte sie ihm, und sie wusste nicht, ob es an ihren vor langer Zeit anerzogenen devoten Manieren oder an seiner überirdischen Autorität lag.

      „Ich weiß sehr gut, welche Dinge du getan hast“, fuhr der Engel fort und auf einmal spürte sie etwas Kühles, Glattes in ihrem Nacken, das sie zunächst nicht zuordnen konnte. Erst als der Engel um sie herum kam, schnappte sie nach Luft, weil es genau das war, an was sich ihre Haut sogleich richtig erinnert hatte: Es war eine schwarze, lederne Springgerte mit gedrehtem Griff. Er setzte ihr die verbreiterte Spitze unter das Kinn, während er beobachtete, wie sie mit aller Macht gegen ihre unkontrolliert aufkeimende Lust kämpfte. Sie wusste nicht, wie ihr geschah. Auf den Anblick eines Mannes mit einer Gerte in der Hand wusste ihr Körper nur eine Reaktion.

      „Wo kommt die denn her?!“, japste sie und der Engel lächelte. „Du hast ein gutes Herz, aber deinen klaren Blick haben sie dir erfolgreich vernebelt. Glaubst du wirklich, der Gehstock war ein Gehstock? So wie ich ein alter Mann war, hmm? Dann wirst du sicherlich auch glauben, diese Gerte sei eine Gerte.“ Fassungslos sah sie ihn an, während das Leder ihre Wange liebkoste. Dann gab er ihr einen sanften Klaps ins Gesicht, der sie zwar erschreckte, aber im Grunde nicht wehtat.

      „Das kannst du nicht tun!“, protestierte sie, während sie die Schenkel eng zusammenpresste.
      „Ach? Warum nicht?“
      „Weil du ein… du bist ein…“
      „Ein Engel?“, ergänzte er sie, während er weiter um sie herumschritt, wieder aus ihrem Blickfeld hinaus.
      „Ja!“
      „Ich bin für dich gern ein Engel, wenn du es wünschst. Aber weswegen sollte ich das dann nicht tun können?“
      Er verpasste ihr wieder einen Klaps mit der Gerte, dieses Mal auf den Po. Es zwiebelte ziemlich und ließ sofort verräterische feuchte Hitze in ihre Mitte schießen.
      „Weil du ein heiliges Wesen bist! Du tust so etwas nicht! Du bist keusch!“

      Und da lachte der Engel laut hinter ihr auf. Sie fühlte sich verlacht. „In einem hast du recht“, sprach er. „Ich brauche tatsächlich keine Sexualität. Ich finde meine reine Erfüllung darin, zu sein. Und genau deshalb…“, er hatte sie wieder umrundet, stand abermals vor ihr und blickte ihr tief in die Augen, „… genau deshalb tue ich das hier.“ Er packte sie in den Haaren und schob sie zur Kommode, wo er sie zwang, sich vorzubeugen. Der Engel kam nah an ihr Ohr und sie spürte, wie das Licht, das er ausstrahlte, ihre Haut auf angenehme Art zum Kribbeln brachte. Sofort kam das Bedürfnis in ihr auf, sich in seine Hände begeben und fallenlassen zu wollen. „Du wirst nun ein wenig über das Leben lernen“, hauchte er sanft, „denn deine Hilferufe sind mir nicht verborgen geblieben, und ich prüfte dein Herz auf deine Bereitschaft, als du mich einließt. Bist du damit einverstanden?“

      Sie nickte hastig, während in ihr ein Sturm höchster Verwirrung tobte. „Sorge dich nicht, deine Verwirrung wird sich lösen. Sag mir, kleine Sub, was, glaubst du, ist deine größte Sünde?“ Ihr Kopf war erschreckend leer, als sie eilig über seine Frage nachdachte. Die Liste ihrer Sünden war wahrhaftig endlos lang…, aber welche ihrer Sünden war die größte? Das Verlieren ihrer Jungfräulichkeit außerhalb der Ehe war es ja scheinbar nicht gewesen, wie der Engel ihr soeben mitgeteilt hatte.

      „Ich… ähm…“, ihr versagten die Worte, als sie spürte, wie er mit seinen warmen Fingern sanft an ihrer Hüfte hinauffuhr, um unter ihr Shirt zu kriechen und es langsam hoch und über ihren Kopf zu ziehen, sodass sie im BH vor ihm stand. Die Berührung seiner Hände brachte sie innerlich zum Glühen und sie war sich nicht sicher, ob es daran lag, dass sie so lang nicht mehr berührt worden war oder aber an seiner Übermenschlichkeit. Alles in ihr sehnte sich danach, sich endlich mal wieder fallen zu lassen. Doch anstatt es zu tun, verkrampfte sich alles in ihr.

      „Bitte…“, sie biss sich auf die Lippen, während der Engel ihren Rücken in aller Ruhe erkundete, sie im Nacken packte, zärtlich gekratzte Striemen auf ihrer Haut hinterließ, als er ihre Wirbelsäule hinabfuhr und schließlich ihren Rock hochschieben wollte. „Bitte, das ist falsch! Du bist ein heiliges Wesen… das geht nicht… ich meine… du wirst…“
      „Sündig, so wie du?“, ergänzte der Engel und sie nickte.
      „Ich will nicht, dass du… dass du…“, ihr halber Satz endete in einem Keuchen, als er fest ihre Pobacke ergriff.
      „… dass ich als Engel falle?“, las er wiederum ihre Gedanken. „Sorge dich nicht, du hast nicht ansatzweise die Macht, mich zu stürzen. Was ich tue, ist dein Sehnen, nicht meines. Und nun sage mir, wenn du glaubst, so sündig zu sein: Was war deine größte Sünde?“
      Er schob ein zweites Mal ihren Rock hoch, und dieses Mal ließ sie ihn gewähren.
      „Ähm… ich glaube… äh“, sie grub in ihrem Kopf, was angesichts der Tatsache, dass ihre Erregung immer mehr stieg, nicht besonders einfach war. Dann kam ihr die rettende Idee.
      „All meine Flüche gegen Gott! Ich habe Gottes gelästert, sehr viele Male!“
      Es zischte und sie sog scharf die Luft ein, als die Gerte unvorbereitet ihren Hintern traf. Dafür, dass sie bis eben nicht an die Existenz von Engeln geglaubt hatte, konnten diese nicht-existenten Wesen ziemlich präzise und heftig mit einer Gerte zuschlagen!
      „Falsch“, statuierte der Engel.
      „Aber es ist das erste Gebot“, jammerte sie.
      Erneut setzte es dafür einen Hieb, unter dem sie zusammenzuckte.
      „Wieder falsch!“, der Engel klang dieses Mal förmlich empört. „Es ist das zweite!“
      „Ups“, flüsterte sie leise. Damit hatte sie ihren Platz in der Hölle wohl sicher.
      „Aber steht das nicht irgendwo?“, versuchte sie es noch einmal zu ihrer Ehrrettung. „Dass jede Sünde vergeben wird, außer das Lästern gegen den Heiligen Geist oder so?“
      Wieder ein Hieb und sie stöhnte. Es tat so weh – und es tat so gut! Wie lange hatte sie nicht mehr das Gefühl genießen können, wie ihr Hintern mit jedem Schlag immer wärmer wurde. Und wie die Wärme auch die Lust anschwemmte.
      „Ich habe nicht gesagt, es sei keine Sünde. Es ist in der Tat eine große Sünde. Allerdings nicht deine größte. Gib dir mehr Mühe!“
      Sie zermarterte sich weiter den Kopf. Herrje, hätte sie ihrem Liebsten damals doch nur häufiger zugehört, als er aus der Bibel erzählt hatte!
      „Du brauchst kein Bibelwissen dazu“, ging der Engel auf ihre Gedanken ein. „Es ist ein Gebot, das jedes Lebewesen intuitiv weiß… nun, jedenfalls alle außer euch Menschen, denen es regelmäßig von euren Mitmenschen ausgetrieben wird.“

      „Du sollst nicht töten?“, versuchte sie es. Wieder ein fester Hieb. Sie stöhnte und legte den Kopf zwischen ihren Armen auf dem kalten Holz der Kommode, über die sie gebeugt stand, ab. Für einen kurzen Augenblick spielte sie mit dem Gedanken, ihm immer weiter offensichtlich falsche Antworten zu geben, nur um dieses Spanking länger genießen zu können…, aber sofort schämte sie sich für die Idee, dieses heilige Wesen zu ihrer Lust auszunutzen und schob den Gedanken beiseite. „Auch töten ist eine Sünde, und du hast viele Male getötet“, offenbarte ihr der Engel. „Denn wie du weißt, verkündeten viele große Propheten aller Weltreligionen, dass schon das Schlechtreden gegen einen Menschen der erste Keim des Tötens ist, und das ist wahr. Doch das Töten ist nicht deine größte Sünde.“

      „Ich weiß es nicht!“, jammerte sie und erntete dafür nur zwei weitere Hiebe, einen links und einen rechts.
      „Bemüh dich!“, die Gerte tippte drohend gegen ihren Hintern.
      „Ich… äh… Ich war neidisch, ich habe gelogen, ich habe meine Eltern nicht geehrt, ich…“
      Unversehens packte der Engel sie in den Haaren und zog sie hoch, womit er ihr hilfloses Geplapper unterbrach. Sie lehnte an der warmen, leuchtenden Brust des Wesens und verlor darüber fast die Sinne.
      „Du hast keine Gerte verdient, du bräuchtest einen Rohrstock! Das ist falsch!“
      Der Engel drückte sie wieder auf die Kommode und verpasste ihr zwei Hiebe, abermals links und rechts.
      „Es tut mir leid, ich weiß es nicht“, brachte sie schließlich hervor.

      Ihr himmlischer Peiniger zeigte Milde und zog sie wieder zu sich heran, dieses Mal sanfter. Erleichtert lehnte sie sich an ihn, während seine Hand sanft ihren Hals umschloss. Je länger sie an ihm lehnte, umso stärker hatte sie das Gefühl, als würde sie schweben, als zöge etwas oder jemand sie sanft aus ihrem Körper hinaus nach oben. Ihr wurde mehr und mehr schwindelig, so als hätte sie zu viel prickelnden Sekt getrunken, und sie wusste noch nicht, wie sie das finden sollte. „Du verleugnest dich selbst“, beantwortete er endlich die Frage, „das ist deine größte Sünde. Du lehnst dich selbst ab.“ Erstaunt und verunsichert hielt sie inne.

      „Warum tust du das?“, hakte der Engel weiter nach. „Was bringt dich dazu, das große Ganze – und dich als einen Teil davon – infrage zu stellen und sogar als minderwertig zu brandmarken?“ Sie war überrascht, dass das dem Engel nicht klar zu sein schien. Die Antwort war doch einfach: weil sie es war! Weil sie niemals genügen konnte! Weil sie ständig Fehler machte, Menschen verletzte, ihr Leben nicht auf die Reihe bekam… „Scht“, die andere Hand legte sich auf ihre Stirn, und ihre jagenden, keifenden Gedanken beruhigten sich augenblicklich.

      „Hörst du deinen eigenen Gedanken zu? Diese Gedanken sind deine größte Sünde. Kein Tier würde je so über sich selbst denken! Doch du bist Teil eines vollkommenen Universums. Eines wunderbaren und sensiblen Gleichgewichts. Nichts kann bestehen, was unvollkommen ist – das ist unmöglich, denn es ist Vollkommenheit! Und genau deshalb bist du es auch. Kannst du das annehmen?“ Sie schüttelte den Kopf und auf einmal stiegen Tränen in ihr auf. „Komme ich jetzt in die Hölle?“, schluchzte sie, obwohl sie die Antwort doch schon längst wusste. Der Engel packte sie wieder in den Haaren und ließ ihren Blick durch ihr eigenes Wohnzimmer wandern. Über den rotweinfleckengetauften Teppich. Die vertrockneten Zimmerpflanzen. Die kahlen Fenster ohne jedwedes Licht. „Du bist doch bereits in der Hölle. Weil du es so wählst.“

      Und sie sah, dass der Engel recht hatte. Je länger sie an ihm lehnte, umso mehr wurde ihr deutlich, welch Leben sie in den letzten Jahren geführt hatte. Sie sah sich in ihrem Wohnzimmer noch einmal um und auf einmal entdeckte sie Zeitschnipsel, die wie goldene Schlieren durch den Raum tanzten: Zeitschnipsel, in denen ihr Liebster den nagelneuen Teppich glücklich ausrollte. In denen sie ihn mit den blühenden Zimmerpflanzen aus dem Baumarkt überraschte. Und in denen in den Fenstern Lichter gewesen waren, weil sie sie gemeinsam aufgehangen hatten. „Das meine ich“, flüsterte der Engel an ihrem Ohr, als er ihre Gedanken beobachtete, „dieser Ort war vor einer geraumen Weile noch der Himmel für dich. Himmel und Hölle sind zu jeder Zeit überall, und du wählst, wo du dich aufhältst.“

      Und die Trauer brach sich ihren Weg und sie weinte hemmungslos. Drehte sich um und ließ sich von dem Engel, der geduldig ihre Tränen kommen und gehen ließ, einfach nur halten.
      „Warum musste er sterben?“, fragte sie. „Warum?“
      „Er musste nicht sterben. Seine Seele hat sich damals entschieden, den vom Unfall schwer verletzten Körper abzulegen. Und wenn du wachsam wärest, würdest du spüren, dass dein Liebster zu jeder Sekunde bei dir ist.“
      „Ich möchte zurück zu ihm!“, schniefte sie.
      „Deine Zeit ist noch nicht gekommen, kleine Sub.“
      „Und wann ist es soweit?“, flüsterte sie leise und fröstelte bei dem Gedanken, sterben zu müssen.
      „Wenn dich der Gedanke nicht mehr zum Frösteln bringt“, antwortete der Engel bereitwillig, „doch du möchtest leben, also sollst du leben. Und vor allem solltest du dich nicht mehr abwerten, denn mit jedem Gedanken, mit dem du dich geringschätzt, fügst du dir selbst Schaden zu.“
      „Aber wie?“, fragte sie. „Wie könnte ich mich je annehmen, wie ich bin?“
      „Beginne heute damit“, flüsterte der Engel in ihr Ohr, „und übe dich jeden Tag darin. Nimm jede deiner Seiten an. Deine guten Seiten. Aber auch deine vermeintlichen Fehler. Gerade die! Denn sie zeigen dir auf, wo du noch verwundet bist. Hör auf, dich zu verleugnen und dich für menschengemachte Regeln zu verstellen. Folge nur den Regeln, die aus Liebe entspringen, und diese erkennst du daran, dass sie dich groß machen, nicht klein, dass du dich gut fühlst, wenn du sie befolgst, nicht schlecht! Du wirst gar nicht anders können, als die Regeln der Liebe einzuhalten – und solange du das nicht kannst, verstelle dich nicht, um etwas zu sein, was du nicht bist!“

      Sie seufzte. „Wenn ich wäre, wie ich bin…“, träumte sie, „… dann würden all die Menschen hier, die sich so gottesfürchtig geben, mich ziemlich verurteilen. Ich meine, du weißt, was ich mit meinem Liebsten getan habe.“ Der Engel lachte leise. „Das weiß ich in der Tat, und es war wundervoll. Und ich weiß auch, dass die Menschen sich sehr vor der liebevoll gelebten Sexualität fürchten, weil sie selten den Zuständen vollkommenen Vertrauens und vollkommener Hingabe und Ekstase näher kommen als dann, wenn sie ihrer Liebe körperlichen Ausdruck geben. Glaubt ihr wirklich, es ist ein Fehler der Natur, dass die Sexualität zu einer der wunderbarsten, menschlichen Erfahrungen gehört? Wie könnte etwas, das so erfüllend ist, schlecht sein?“

      „Das habe ich auch nie verstanden“, gab sie zu.
      „Weil es keinen Sinn ergibt“, pflichtete der Engel ihr bei, „also beginne damit, dich wieder zu feiern. Beginne, das Leben zu feiern. Beginne, dich wieder zu spüren – es ist der beste Weg, dich selbst anzunehmen.“
      Seine Hand war tiefer gewandert und sie verspannte sich etwas. Noch immer fiel es ihr schwer, zuzulassen, sich von einem so reinen Geschöpf berühren zu lassen, und als seine Finger zwischen ihren Beinen ankamen, zuckte sie zusammen.
      „War dein Liebster etwa unrein, als er dich so berührte?“, fragte der Engel.
      Sie schüttelte den Kopf, ohne nachzudenken.
      „Warum fällt es dir dann schwer? Es ist dein Weg, Lust zu empfinden, so wie es das mit der Gerte ebenfalls war.“

      Sie antwortete nicht mehr. Sie gab sich den Empfindungen hin, die ihr geschenkt wurden. Genoss nun auch zunehmend den Schwindel, der sie höher und höher trug, über die irdischen Grenzen ihres Seins hinaus. Genoss den Druck an ihrer empfindlichsten Stelle, die feuchte Hitze, die sich dort sammelte, spürte, wie ihr Atem nach und nach immer tiefer wurde. Und sie löste sich aus ihrem Körper, ohne ihn zu verlassen, und sie überblickte das gesamte Universum in all seiner Schönheit, und sie sah die unüberbietbare Perfektion des Lebens – jeden Mann, jede Frau, jedes Kind vertieft in seinem Sein, ohne sich der Schönheit des Seins bewusst zu werden. Die haltgebende Hand des Wesens umfasste weiterhin ihren Hals und fing ihren sich windenden Körper ein, während ihr Geist verstand, dass alles zu seiner Zeit und am richtigen Ort geschah. Und sie sah das eng vernetzte Band aller Seelen zueinander, die leuchtenden Verbindungen der Lebenden und der Toten, sah das unbewusste Spiel der Menschen, das der Liebhaber und das der Feinde, die Freundschaften und die Abneigungen, bevor sie einander wiederbegegneten, wenn sie ihre Körper verließen und einander als eins erkannten und dass sie nichts getrennt hatte als ihre Unbewusstheit.

      Und als sie heftig in den Händen des Wesens kam, spürte sie auch ihre Verbundenheit zu alledem, so wie damals, vor vier Jahren, ein altbekanntes Gefühl, das sie an ihre erfüllendsten Sessions erinnerte. Sie spürte, wie sie eins war und hörte das helle Lachen ihres Geliebten, der Anteil nahm an ihrer grenzensprengenden Erfahrung.
      Genieße es! Und erinnere dich an mich. Ich warte auf dich, hörte sie seine Stimme in ihrem Kopf, als sie schließlich über all die überwältigenden Empfindungen das Bewusstsein verlor.

      Zwei Wochen später
      „Vielen Dank! Ich wünsche Ihnen ein gesegnetes Weihnachtsfest!“ Sie erntete einen verwirrten Blick von der Verkäuferin, als sie lächelnd das Wechselgeld entgegennahm und aus dem Laden hinausschwebte. Es war einen Tag vor Heiligabend. Die kühle, klare Luft des Dezembers erfrischte ihre Lungen und sie nahm mit geschlossenen Augen einen tiefen Atemzug davon. Dann blickte sie auf die wunderschöne Schneedecke, die der Abend vor zwei Wochen gebracht hatte.

      Zwei Wochen war diese Nacht her, die ihr Leben verändert hatte. Sie war damals in ihrem Bett wieder zu sich gekommen – seit Ewigkeiten mal wieder im Schlafzimmer. Allein deswegen hatte sie eine ganze Weile gebraucht, um sich wieder zu fangen. Doch was noch überwältigender gewesen war, war das Gefühl, ihr Körper sei bis in die Haarspitzen mit Licht und Wärme angefüllt.
      Es war ein Traum, hatte sie sich versucht zu sagen. Es war nur ein Traum! Doch noch nie im Leben hatte sie sich so lebendig gefühlt! Als entdeckte sie ihren Körper noch einmal, hatte sie ihre Finger betrachtet. Sie erschienen ihr fremd und perfekt zugleich, wie ein seltsames Wunderwerk, und sie hatte eine gute halbe Stunde damit zugebracht, sie zu bewundern. War dann aufgestanden und hatte sich im Spiegel betrachtet. Ihr Gesicht schien sich nicht wesentlich verändert zu haben. Ja, es erschreckte sie sogar, zu sehen, wie sehr ihr Gesicht aufgedunsen war vom vermehrten Alkoholkonsum der letzten Zeit. Das war ihr zuvor gar nicht aufgefallen – vermutlich deshalb, weil sie es zumeist gemieden hatte, sich selbst im Spiegel zu betrachten.

      Und trotzdem sah sie nun mit einem anderen Blick auf die junge Frau im Spiegel. Mit der nicht zu leugnenden Gewissheit, dass sie vollkommen war. Ein Gefühl, das ihr fremd und zugleich doch sehr vertraut war, so als hätte sie sich an etwas erinnert, das vor langer Zeit verloren gegangen war. Und als sie sich schließlich losgerissen hatte und hinübergegangen war ins Wohnzimmer, war da neben dem Sessel der Rotweinfleck gewesen und auf der Kommode hatte ihr Shirt gelegen. Irritiert über seinen Fundort hatte sie es eingesammelt.

      Und als sie sich anschließend umgedreht hatte und zum Sessel zurückblickte, wo im Traum der Engel gesessen hatte, stieß sie mit dem Fuß gegen etwas, das klirrte. Sie blickte an sich hinab: die Scherben der Teetasse. Und da hatte sie gelächelt. Und gebetet – das zweite Mal in ihrem Leben. Nur dass sie dieses Mal nicht flehte – sondern dankte.


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      Wow, wie schön... eine Geschichte, die Mut macht und daran erinnert, dass es im Leben nicht nur "richtig" und "falsch" gibt - und das sich das schon gar nicht aus den Ansichten anderer herleiten lässt. Für uns und unser Glück sind wir in erster Linie selbst verantwortlich; wenn "wir" (wieder) bereit sind uns mit all unseren Stärken, Schwächen und Eigenheiten anzunehmen, dann schafft es niemand anderes uns zu verbiegen oder gar zu verleugnen...
      Vielen Dank, lieber anonymer Schreiber, für einen so warmherzigen und gefühlvollen Einstieg in den zweiten Advent. :blumen:
      Geschichte kann und will ich es nicht nennen, denn das finde ich nicht würdig genug. Ich sitze hier und mir laufen die Tränen, lange hat mich beim Lesen nichts mehr so berührt.
      Vielen Dank zu sagen, finde ich nicht genug. Ich verbeuge mich in Respekt und Demut vor diesem Kunstwerk.
      Don't dream it - be it
      Eine wunderbar berührende Geschichte. Mein Morgen hat mit Tränen in den Augen begonnen...
      Meine devote Neigung und mein Glauben sind sehr eng miteinander verbunden - wie eine spirituelle Verknüpfung, die ich noch nicht recht einordnen kann. Da mir ein Austausch hierüber etwas schwer fällt (ich möchte ja niemanden zu Nahe treten) berührt mich diese Geschichte zutiefst und ist wie ein Geschenk für mich. Vielen lieben Dank dafür.
      Einen schönen zweiten Advent.