22.12.2023 ✷ Ein Engel für mich

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      22.12.2023 ✷ Ein Engel für mich

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      ✵ 22. Dezember ✵

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      Ein Engel für mich

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      von dbondino

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      Ich kniete, schaute auf die Kerze, die vor mir brannte. Dankbarkeit für mein jetziges Leben erfüllte mein Herz und doch lauerte mit gleicher Intensität Trauer wegen meiner Verluste darin. Dass mein Gesicht tränennass war, bemerkte ich erst Minuten später. Der Zwiespalt, in dem ich mich befand, war unüberbrückbar und drohte mich innerlich zu zerreißen.
      Advent. Weihnachten drohte - wieder einmal - und alle Wunden rissen auf, die das Leben mir geschlagen hatte. Jene, die niemals geheilt waren, eiterten und mit entzündlichen Gedanken mein Sein vergifteten.

      So kniete ich hier, fühlte mich plötzlich nackt und hilflos, schaute in die Flamme der brennenden Kerze und flehte still, dass alles einfach vorbeigehen möge. Weihnachten. Der Schmerz. Die Ausweglosigkeit. Warum musste ich mindestens einmal im Jahr durch diese Verzweiflung gehen? „Verdammtes Weihnachten!”, entfuhr es mir und ich schreckte auf. Hatte ich das wirklich gerufen? Hier in der Kirche? Wie peinlich!

      „Möchten Sie darüber reden?” Ich fuhr herum und sah neben mir in das Gesicht einer Frau, das ich zu erkennen glaubte. Ich hatte sie hier in der Gemeinde schon gesehen, wenn ich - weniger als einmal im Jahr - einen Gottesdienst besuchte. Sie half bei der Kommunion und las aus der Bibel. Mehr durften Frauen in der katholischen Kirche ja nicht tun.

      „Katharina Freigang, ich bin die Pastoralreferentin hier in der St. Quirinius-Gemeinde”, stellte sie sich vor.
      „Vielen Dank, aber ich denke nicht, dass Sie mir helfen können.”
      „Versuchen Sie es! Was können Sie verlieren? Ich unterliege der beruflichen Schweigepflicht und vermutlich kenne ich mehr Lebensgeschichten, als Sie sich vorstellen können. Man bekommt viel Erfahrung mit den Jahren und lernt sehr unterschiedliche Lebensperspektiven kennen.”
      „Wenn ich Ihr Angebot annähme, dürfte ich in der Folge am Gottesdienst nicht mehr teilnehmen.”
      Frau Freigang lachte.
      „Das mag nach Kirchenrecht so sein, aber wir leben hier in der Realität. Kaum jemand dürfte zur Kommunion gehen, ohne vorher zu beichten. Raten Sie mal, wie viele sich daran halten”, sagte sie.
      Irgendwie mochte ich sie und ihren verschmitzten Blick. Sie sah sehr vertrauenerweckend aus und schien mir keine Frau vom Typus Betschwester zu sein. Sie mochte etwa vierzig Jahre alt sein und war farbenfroh und modisch gekleidet. Sie wirkte natürlich nicht übertrieben schrill oder aufgedonnert, aber doch sehr den Freuden des Lebens zugewandt.
      Sie lächelte mir aufmunternd zu: „Und? Was ist es, was Ihr Weihnachten so schwierig macht? Die Familie?”
      Ich nickte.
      „Es ist fast immer die Familie. Sie sind da in zahlreicher Gesellschaft”, sagte Frau Freigang.
      Ich hatte einen dicken Kloß im Hals und das Reden fiel mir schwer.
      „Mir fehlt mein Bruder. Der Rest kann bleiben, wo der Pfeffer wächst. Aber Emil fehlt mir sehr.”
      „Ist er älter oder jünger als Sie?”
      „Älter. Acht Jahre älter.”
      „Ein richtiger großer Bruder.”
      „Ja. Das war er.”
      „War? Lebt er nicht mehr?”, fragte die Pastoralreferentin nach.
      „Er ist nicht mehr Teil meines Lebens. Aber ich bin sicher, dass er noch lebt. Er ist ja erst 35.”
      „Emil ist in Ihrem Herzen und somit auch Teil Ihres Lebens. Dass Sie ihn nicht sehen können, darin liegt der Schmerz. Verstehe ich das richtig?”
      Ich nickte. Das war ein wesentlicher Teil meines Kummers.
      „Darf ich fragen, warum Sie Emil nicht treffen oder zumindest mit ihm telefonieren können?”
      „Mein Herr erlaubt es nicht.”
      „Ihr Herr? Sie reden aber nicht von Gott, oder?”
      Felix war gottgleich für mich, aber nein, er war nicht der Gott von Frau Freigang.
      „So spreche ich privat meinen Partner an. Sie werden das nicht verstehen, mich vermutlich verachten oder für krank halten.”
      „Weil Sie submissiv oder devot sind? Nicht automatisch, nein.”
      Ich schaute sie erstaunt an.
      „Der Halsreif, die Anrede …”, grinste sie.
      „Sie wissen um solche Beziehungen?”, fragte ich erstaunt.
      „Ich lebe nicht hinter dem Mond!”
      „Davon ging ich auch nicht aus. Aber mein Lebensstil ist trotzdem nicht der gängigste.”
      „Ich beuge mich ja selbst einem Herrn im Glauben, der mir viel vorgibt, von dem meine Existenz abhängt - und finde trotzdem Erfüllung darin. Ist das so anders?”

      Darüber dachte ich einen Moment nach. Es war ein wenig Wahres daran, wenn man es auch nicht eins zu eins vergleichen konnte.
      „Außerdem kenne ich solche Beziehungen aus meiner seelsorgerischen Tätigkeit. Nur wenige Menschen reden offen mit mir darüber, ja, aber es sind oft gut funktionierende Beziehungen.”
      Ich schwieg einen Moment, dann sagte ich: „Felix hat mich aus meiner Familie gerettet. Die war sehr kaputt. Bis dahin hatte Emil oft auf mich aufgepasst, doch er war immer seltener da, weil er sich ein anderes Leben aufbauen wollte. Die Familie… tja.”
      „Alkohol? Drogen?”
      „Ja.”
      „Missbrauch?”
      „Schläge, aber kein sexueller Missbrauch.”
      Ich schaute in Frau Freigangs Gesicht und erwartete Mitleid oder gar Ablehnung darin, doch sie war einfach nur ernsthaft interessiert. Sie urteilte nicht.
      „Felix”, fuhr ich fort, „er hat mich da rausgeholt. Seine Regeln gaben mir den Halt, den ich brauchte, um aufrecht gehen zu können. Seine Liebe nährte meine fast tote Seele. Ich bin meinem Herrn unendlich dankbar dafür.”
      „Das ist verständlich. Aber er sorgte auch für eine absolute Trennung von Ihrer Familie?”
      „Das war seine Bedingung, ja”, nickte ich.
      „Die Eltern fehlen Ihnen nicht?”
      „Nein.”
      „Nur Emil, Ihr Bruder?”
      „Ja.”
      „Und Felix kann diesen Kontakt nicht tolerieren?”

      „Mein Bruder und er sind sehr verschieden. Er traut ihm nicht und glaubt, dass er einen schlechten Einfluss auf mich haben könnte.”
      „Und wenn Sie einfach mal das Telefon in die Hand nähmen? Das ist doch nicht sooo riskant. Haben Sie seine Nummer?”
      „Ja, habe ich - wenn sie noch aktuell ist. Aber es würde sich wie Verrat gegenüber Felix anfühlen. Ich habe keine Geheimnisse vor ihm.”
      „Ihr Bruder, warum ruft er Sie nicht an?”
      „Felix hat ihm mit einer Anzeige gedroht. Emil hatte Felix geschlagen - eine dumme Sache.”
      „Möchten Sie wissen, wie es Emil geht? Ich könnte ihn anrufen. Dann ist es auch kein richtiger Verrat der Regeln, die Ihr Herr Ihnen gibt.”
      Das war eine Grauzone. Mein Blick hing an der Kerze vor mir. Emil - ich musste einfach wissen, wie es ihm ging!
      „Gut. Das hier ist seine Nummer. Vielleicht gilt die auch schon lange nicht mehr. Es ist fast sechs Jahre her.”
      Die fremde Vertraute an meiner Seite wählte auf ihrem Handy die Nummer.
      „Emil Buchta, hallo?”
      „Katharina Freigang - ich kenne Ihre Schwester.”
      „Lana? Wissen Sie, wie es ihr geht?”
      „Es geht ihr gut. Emil, ich weiß, dass Lana Sie vermisst.”
      „Sie meldet sich nie. Ich darf sie ja nicht kontaktieren. Ihr Macker Felix droht mir mit offizieller Kontaktsperre.”
      „Ich habe davon gehört. Darf ich Lana etwas von Ihnen erzählen oder ausrichten?”
      „Viel lieber würde ich ihr direkt sagen, dass ich bald heiraten werde und meine Zukünftige und ich Eltern werden.”
      Mir schossen Tränen in die Augen, als ich es mithörte und es kostete mich größte Überwindung, Katharina das Handy nicht aus der Hand zu reißen und selbst mit Emil zu reden.
      „Das sind ja schöne Neuigkeiten! Das erzähle ich Lana sehr gerne”, fuhr Katharina Freigang fort.
      „Ich habe eine Ausbildung abgeschlossen, habe Arbeit gefunden und bin trocken. Sagen Sie ihr das auch.” Ich konnte hören, dass Emil schniefte.
      „Ich kann mir vorstellen, dass Lana ein Stein vom Herzen fallen wird. Sie können stolz auf sich sein.”
      „Danke … Katharina ist Ihr Name?”
      „Ja, Emil. Ich heiße Katharina.”
      „Können Sie mit Felix reden? Es hat sich so viel geändert. Ich verdiene eine neue Chance.”
      „Sie sind Felix nicht böse?”
      „Ich war es. Aber er ist vielleicht das Beste, was Lana passieren konnte. Das sah ich vor Jahren ein wenig anders, doch rückblickend und mit einer Frau an meiner Seite … Felix ist manchmal ein Arsch, aber einer von der guten Sorte.”
      „Dann werde ich versuchen, mit ihm zu reden, Emil.”
      „Danke! Und richten Sie Lana liebe Grüße von mir aus? Sie fehlt mir sehr.”
      „Das werde ich machen. Tschüss!”
      „Tschüss, Katharina, und danke für den Anruf.”

      „Es geht ihm gut!”, stieß ich erleichtert und unter Tränen hervor, sobald das Gespräch beendet war.
      „Ja, er scheint sein Leben in den Griff bekommen zu haben. Das sollten Sie Felix sagen.”
      „Er würde denken, dass ich seine Regeln gebrochen habe. Wäre es unverschämt von mir, Sie und Felix zu einem Glühwein einzuladen, damit Sie ihm erzählen, was passiert ist?”

      Mein Gegenüber seufzte. „Na gut, ich bin heute wohl als Engel unterwegs. Die sind in der Bibel ja auch die Überbringer diverser Botschaften. Dann sehe ich das mal als Teil meines Berufsbildes.”
      „Ich möchte Ihnen eigentlich keine Umstände machen.”
      „Schon in Ordnung. Ich habe es ja selbst vorangetrieben. Geben Sie mir bitte Felix’ Nummer?”

      Katharina Freigang wählte die Nummer meines Herrn und ging vom kleinen Andachtsaltar, vor dem ich noch immer kniete, in Richtung des Kirchenschiffs. Ich wandte mich wieder der Kerze zu und hoffte, betete - zu welcher Macht auch immer, die da vielleicht sein mochte.
      Emil ging es gut. Danke, Universum! Er war nicht verbittert und hatte Verständnis für mich und Felix. Das barg Hoffnung auf ein Wiedersehen und diese Pastoralreferentin, die war vielleicht wirklich der Engel, ein Bote im Auftrag der Mächte.

      Eigentlich konnte ich mit Felix über alles reden. Nur meine Familie, die war immer der schwarze Fleck geblieben, das gefährliche Etwas, das nicht angesprochen werden durfte. Das war wirklich kein Problem für mich - außer Emil. Würde sich das ändern lassen? Vor meinem unkontrollierten Gefühlsausbruch und dem Gespräch mit der Pastoralreferentin war mir noch nicht einmal klar gewesen, wie sehr ich darunter litt. Würde Felix das akzeptieren können und einlenken? Der Abbruch aller Kontakte zu meiner Familie war eine Grundbedingung für unsere Beziehung gewesen, der ich vor Jahren ausdrücklich zugestimmt hatte.

      Ich hörte Frau Freigang leise reden und ihre Schritte hallten leise durch die große Kirche. Die Kerze vor mir brannte konstant und unverändert. Sie schien mehr Licht zu geben als noch vor einer halben Stunde, was am einsetzenden Abend liegen mochte. Es wurde dunkel.

      „Katharina? Bist du das? Ich will abschließen!”, das war der Küster.
      „Augenblick, Heinrich, gib mir noch drei Minuten, bitte!”
      „Ich habe Feierabend!”, rief der ungehalten zurück.
      Frau Freigang hatte sicher auch Feierabend. Ich bekam ein schlechtes Gewissen und stand von dem gepolsterten Kniebänkchen auf. Ich ging in Richtung der Pastoralreferentin, die mich lächelnd zu sich winkte.
      „Ja, gut … nein, keine Sorge, ja … bis gleich dann, tschüss!”, hörte ich.

      „Sie … danke, aber Sie haben doch sicher auch Feierabend?”
      „Einen richtigen Feierabend gibt es im Dienste des Herrn meistens nicht. Das kennen Sie vielleicht ja auch von Ihrem Herrn, Lana? Ich habe jetzt noch eine gute Stunde Zeit, dann ist Pfarrgemeinderatssitzung.” Ich spürte ihre Hand auf meinem Rücken, die mich in Richtung des Ausgangs lotste. „Felix kommt gleich. Die Zeit können wir also gut nutzen und vielleicht bekomme ich ja sogar eine Wildschweinbratwurst als Abendessen? Ich könnte es schlechter haben”, sagte sie gut gelaunt. Der Küster schaute uns grimmig an, weil er nicht pünktlich hatte abschließen können, doch Frau Freigang reagierte nicht darauf.

      Wie anders war die Stimmung, als wir das Kirchenportal durchschritten und die Türe hinter uns ins Schloss fiel. Der Weihnachtsmarkt auf dem Münsterplatz war hell erleuchtet und kitschige Musik mit Kinderchören, Glocken und Streichern tönte von überall herüber zu uns.
      Der blaue Abendmantel des Himmels passte gut zum goldenen Schmuck an den Buden und zur warmen Beleuchtung. Der Geruch von gebrannten Mandeln, Lebkuchen, Glühwein, Kartoffelpuffern, Backfisch und anderen Dingen, die man nie auf den Empfehlungslisten einer Ernährungsberaterin finden würde, stieg mir als wilde Mischung verführerisch in die Nase.
      Das alles war vor einer Stunde auch schon da gewesen. Doch ich hatte genervt versucht, das Treiben zu ignorieren. Weihnachten war vor einer Stunde noch ein unüberwindbares Problem gewesen. Jetzt hatte ich Hoffnung und meine Stimmung passte zum Umfeld - es war toll!

      Ich lud meinen Engel zum Glühwein und zur Wildschweinbratwurst mit Pommes ein. Wir einigten uns aufs „Du”, das „Katharina” fühlte sich richtiger an als „Frau Freigang”. Sie fragte mich interessiert nach meiner Beziehung zu Felix, nicht nach sexuellen Vorlieben, sondern eher nach der Dynamik und Rollenverteilung bei uns. Ich gab ihr bereitwillig Auskunft und erklärte ihr, warum das für uns so gut funktionierte, warum ich in dieser Beziehung meinen Ruhepol und meine Sicherheit gefunden hatte. „Ich beneide euch beide fast um das, was ihr habt. Es klingt, als würde es sehr gut für euch funktionieren. Ich könnte es nicht, aber das ist ja nicht wichtig. Ich bin gespannt, was für ein Typ Felix ist. Am Telefon war er nicht unangenehm.”

      „Das höre ich gerne”, sagte eine Stimme hinter uns. Felix hatte sich beeilt. Ich neigte meinen Kopf leicht und begrüßte ihn mit einem Kuss auf seinen Ring.
      „Mein Herr, das ist Katharina. Ihr habt telefoniert. Katharina, mein Herr, Felix.”
      „Hallo!”, sagte mein Engel etwas irritiert, vielleicht auch fasziniert. Die Begrüßung war sicher unüblich für sie und es war für mich auch eher unüblich, meinen Herrn in der Öffentlichkeit so zu begrüßen. Ich wollte mich vor Katharina aber unverstellt als die Sub zeigen, die ich nun einmal war.

      „Vielen Dank, dass du auf meine Liebste aufgepasst hast, als es ihr nicht gut ging. Ich bedauere, dass ausgerechnet ich ihr nicht helfen konnte, weil ich die Situation nicht neutral wahrgenommen habe. Das sollte ich besser handhaben können.”
      „Der Herr darf keine Fehler machen?”, stichelte Katharina.
      „Unfehlbar bin ich sicher nicht. Aber ich trage eine hohe Verantwortung für meine Sub, die sich auf mich verlässt und sich voll und ganz in meine Hände begibt.”
      „Nun, ich glaube fest, dass wir nicht alleine und verlassen sind. Wir dürfen auch Hilfe annehmen und auf Unterstützung hoffen”, warf Katharina ein.
      „Ein Gott passt nicht so recht in mein Weltbild, aber ich weiß aufmerksame und hilfreiche Menschen sehr zu schätzen. Kann ich mich erkenntlich zeigen?”
      „Nun, am ehesten, indem du Lana und Emil eine Chance gibst.”
      Felix nickte.
      „Ich habe auf der Fahrt mit Emil telefoniert. Er war offen und ehrlich. Er hat viel in seinem Leben verändert und das hat mir imponiert. Lana, wir werden ihn am zweiten Feiertag besuchen und bei dieser Gelegenheit auch Marita kennenlernen, seine Zukünftige - also, wenn dir das recht ist.”

      Ich fiel Felix um den Hals und fing zu schluchzen an.
      „Na, hier ist wohl alles in Butter. Ich sollte mich dann wohl in Richtung der Pfarrgemeinderatssitzung verabschieden. Wir müssen die schwierige Finanzierung unseres Jugendprojektes verhandeln. Drückt mir die Daumen.”
      „Katharina, vielen Dank für alles!”, ich umarmte meinen Engel.
      „Danke für Speis und Trank und die Einblicke in eine andere Beziehungswelt, die ihr mir gewährt habt.”
      Wir verabschiedeten Katharina in ihre Sitzung und Felix und ich schlenderten dann erstmals Arm in Arm mit kindlichem Staunen und weihnachtlicher Vorfreude im Herzen über einen Weihnachtsmarkt.

      Ich zählte die Tage bis zum Wiedersehen mit meinem Bruder. Wie würde es sein? Wären wir uns fremd? Vertraut wie eh und je? Oder mussten wir uns neu kennenlernen?

      Am zweiten Weihnachtsfeiertag fuhren wir endlich über den Rhein in die Nachbarstadt, um meinen Bruder und seine Verlobte zu treffen. Ich konnte mich vor Nervosität kaum beherrschen, doch alle Ängste waren schnell verflogen, als wir in seiner Wohnung ankamen.
      Die befürchtete Distanz zwischen Emil und mir gab es nicht. Wir waren sofort wieder Geschwister.

      Marita war eine tolle Frau und sie hatte Emil fest im Griff. Sie war anders als Felix, gab Emil aber ebenso viel Halt und emotionale Sicherheit. Das war unzweifelhaft die Basis für eine andere Familie als die, aus der wir hervorgegangen waren. Und mit ihr an seiner Seite verstand ich auch, wie Emil plötzlich so vernünftig sein konnte. Sie hatte ihm die gekränkte Ehre genommen und sein aufbrausendes Temperament gezügelt. Emil war noch immer ein feuriger Mann, aber sein Kopf kontrollierte jetzt das emotionale Chaos. Seine Hände auf Maritas noch kleinem Babybauch, sein glücklicher Blick - ich staunte, wie offen er nun seine Gefühle zeigte.

      Die beiden störten sich nicht an meiner Beziehung mit Felix, die nun wirklich nicht dem Zeitgeist und den gängigen Normen entsprach. Es zählte für uns Geschwister nur, dass wir Paare glücklich miteinander waren. Gegenseitige Toleranz, eine verzeihende Grundstimmung und ein gewisses Maß an Stolz darüber, dass wir die schwierige Ausgangslage unserer Herkunft gemeistert hatten, waren die Zutaten unseres kleinen persönlichen Weihnachtswunders. Ich hatte meinen Bruder wieder und er seine Schwester.

      „Kommt ihr am ersten Wochenende im neuen Jahr zu uns? Wir könnten am Sonntag ein Neujahrsfrühstück machen.” Felix lud nie Leute zu uns ein! Das war eine Premiere! Die beiden nahmen die Einladung gerne an.

      Am Abend kniete ich vor einer brennenden Kerze, ließ mit Felix das Erlebte Revue passieren und wir sprachen offen darüber, wie wir uns gefühlt hatten. Wir sprachen auch darüber, wie wir so eine verfahrene und sprachlose Situation zukünftig vermeiden könnten. Es war ja sicher nicht immer ein Engel in der Nähe. Ich würde mehr Mut haben müssen und Felix versprach, keine thematischen Tabus mehr zu pflegen. Wir waren uns einig und fühlten den Gleichklang unserer Erwartungen aneinander.

      Kurz darauf wurde mir wieder einmal bewusst, wie sehr ich es liebte, Felix die Kontrolle über mich zu geben und sei es, um zu erfahren, dass Kerzen nicht nur eine gemütliche Stimmung und himmlische Wärme verbreiteten, sondern auch höllisch heiße Spiele erlaubten. Ich war genau an dem Platz, an den ich gehörte und fühlte mich an diesem Weihnachtsfest zum ersten Mal seit vielen Jahren reich beschenkt, nicht materiell - wir hatten unser Geschenkebudget an Katharinas Jugendprojekt gespendet -, sondern mit Glücksgefühlen und Frieden im Herzen.

      Frohe Weihnachten!

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      Bitte liked jedoch nicht diesen Beitrag, da er nicht vom Autor eingestellt wurde, sondern im Rahmen des Geschichtenadventskalenders.
      Der Autor wird, sofern er es möchte, zeitnah hier eine Antwort posten. Diese dann bitte liken, so dass eure Likes auch bei ihm ankommen.
      Vielen Dank, lieber @dbondino. Am frühen Morgen laufen schon die Tränen, aber das ist nicht schlimm. 'Meine Katharina' hat mir vor kurzem ein paar Dinge bewusst gemacht und heute Abend werde ich eine Kerze anzünden. Einfach, weil mir danach ist und ich froh und dankbar für die Menschen in meinem Leben bin.

      Frohe Weihnachten!
      Don't dream it - be it
      Vielen Dank, dass ihr auch meine letzte Kalendergeschichte für dieses Jahr gelesen habt. Es freut mich, wenn sie euch gefallen hat.

      Das Thema ist durchaus persönlich. Ich habe mich von der Kirche als Institution schon lange getrennt, habe aber auch ganz wunderbare Menschen dort getroffen, die durch ihr Handeln Sinn und Frieden gestiftet haben - oft trotz der Institution.
      Jesus, Gandhi, sicher auch andere, waren Menschen, die ohne Geld und Schwert in den Menschen etwas bewegt haben, andere Werte geschaffen haben.
      Dieses Wirken solcher Menschen darf man auch als "Heide" an Weihnachten feiern, zumindest ist das meine Brücke zum Fest. Ja, das fällt in der Familie oft schwer genug, ist aber einen Versuch wert.

      Das Orgateam hat toll gearbeitet und ihr wart aufmerksame Leserinnen und Leser ... vielen Dank! :blumen:

      Ich wünsche allen schöne Feiertage, macht das Beste daraus!

      Mit den besten Wünschen
      dbondino
      Mit einer verliebten Frau kann man alles tun, was sie will.
      (Gustav Klimt)